Der Stimmstein der Athena
Münze:
Pamphylien, Side, Valerian II., Caesar 256-258, Sohn des Gallienus
AE 30, 18.04g
Av.: POV LIK KOR OVALERIANON KAI CEB
Büste, drapiert und cürassiert, barhäuptig, n.r.; darunter Adler n.r. mit geöffneten Fügeln
c/m E in kreisförmigem Incus (Howgego 805)
Rv.: CIDHTWN - NEWKORWN
Athena (Sidetes), behelmt und in engem Peplos, frontal stehend, Kopf n.l., mit Palmzweig über der li
Schulter, läßt aus der herabhängenden re Hand Stimmstein in eine zweihenklige
Amphora fallen, die li neben ihr am Boden steht; re neben ihr ein Zweig mit einem
Granatapfel
Ref.: cf. SNG Pfälzer Privatsammlungen 882 (für Gallienus); wahrscheinlich unpubliziert
S/fast SS, Vs. rauh, Rs. leichte Prägeschwäche li und deutliche zirkuläre Spuren der Gättung beim Herstellungsprozeß
Das E im Gegenstempel soll die Münze warscheinlich vom Zehner zum Fünfer abwerten.
Die Münzen von Side zeigen oft einen Granatapfel, weil 'Side' auf pamphylisch 'Granatapfel' heißt.
Mythologie:
Sucht man Informationen zum Motiv der Athena mit Stimmstein, stößt man unweigerlich auf die Geschichte des Orestes, der zum Mörder an seiner Mutter Klytaimnestra wurde. Deshalb hier eine kurze Geschichte des fluchbeladenen Atridenhauses. Sie beginnt damit, daß Tantalos, um die Götter auf die Probe zu stellen, seinen Sohn Pelops schlachtet und ihn den Göttern zum Mahl vorsetzt. Niemand rührt es an, nur Demeter, die gerade um ihre Tochter Persephone trauerte, aß gedankenlos ein Stück seiner Schulter, das durch Elfenbein ersetzt wurde, nachdem er wieder zum Leben erweckt wurde. Tantalos aber wurde in den Tartaros verbannt.
Aber Pelops war nicht nur das unschuldige Opfer. Als er nach Elis ging, um um die Hand von Hippodameia, der Tochter des Königs Oinomaos, anzuhalten, überedete er Myrtilos, einen Sohn des Hermes, der zu der Zeit Stallmeister des Königs war, den Wagen des Oinomaos zu manipulieren, so daß der Wagen im Rennen zerbrach und Pelops Hippodameia gewann. Aber anstatt Myrtilos den versprochenen Lohn zu geben, stieß Pelops ihn von einer Klippe in die See, sodaß er ertrank. Hermes schwor der Familie des Pelops Rache. Der aber heiratete Hippodameia und nannte seine neue Heimat Peloponnesos (Insel des Pelops)
Atreus war der Sohn des Pelops. Zusammen mit seinem Bruder Thyestes tötete er seinen anderen Bruder Chrysippos. Wegen des Brudermordes wurden beide von Pelops verbannt und gingen nach Argos. Dort betrog Atreus die Göttin Artemis um ein goldenes Lamm. Aber da seine Frau Aerope mit Thyestes ein Liebesverhältnis hatte, gelangte das goldene Lamm heimlich zu Thyestes. Als die Mykener einen von ihnen zum König machen wollten, schlug Atreus vor, das sollte derjenige sein, der ein goldenes Lamm vorzeigen könnte. Das aber war für ihn überraschenderweise Thyestes. Zeus aber, aus Zorn über den Betrug, verhalf Atreus zum Thron von Mykene. Danach erfuhr er vom Ehebruch seiner Frau und beschloß, sich an Thyestes zu rächen. Unter dem Vorwand, sich mit ihm zu versöhnen, lud er ihn zu sich ein, schlachtete dort dessen Söhne (das scheint wohl bei den Atriden sehr beliebt gewesen zu sein!) und setzte sie ihm zum Mahl vor. Nachdem Thyestes das Fleisch gegessen hatte, zeigte Atreus ihm die abgeschnittenen Köpfe seiner Söhne und jagte ihn davon. Später heiratete Atreus Pelopeia, die Tochter des Thyestes. Diese war bereits schwanger von ihrem Vater und gebar den Aigisthos. Den schickte Atreus los, um den verhaßten Bruder Thyestes zu töten. Aber Thyestes erkannte seinen Sohn Aigisthos und der rächte ihn an Atreus.
Agamemnon war der Sohn des Atreus und der Aerope und der Bruder des Menelaos. Nach dem Mord an Atreus war Thyestes König von Mykene geworden. Agamemnon und Menelaos wurden durch ihre Amme vor Thyestes gerettet. Als sie erwachsen waren, half ihnen Tyndareus bei der Rückgewinnung des Thrones. Agamemnon heiratete Klytaimnestra, die Tochter des Tyndareus, nachdem er vorher deren ersten Mann, den Sohn des Thyestes, und ihr Neugeborenes getötet hatte. Menelaos heiratete Helena, die andere Tochter des Tyndareus. Agamemnon hatte mit Klytaimnestra drei Kinder: Elektra, Orestes und Iphigenia. Als Agamemnon zum Führer der Griechen im Krieg gegen Troja gewählt worden war, konnte die griechische Flotte wegen einer Windstille nicht nach Kleinasien übersetzen. Kalchas verkündete, daß erst Artemis besänftigt werden müßte, und zwar durch die Opferung der Iphigenia. Mit einer List - der angeblichen Verlobung mit Achilleus - wurde Iphigenia ins Lager der Griechen gelockt, um dort auf dem Altar geopfert zu werden. Im letzten Augenblick wurde sie von Artemis entführt und durch eine Hirschkuh ausgetauscht.
Nach der Eroberung Trojas kehrte Agamemnon mit der Seherin Kassandra nach Mykene zurück. Dort hatte Klytaimnestra alle die Jahre über mit Aigisthos zusammengelebt. Als Agamemnon nach der langen Reise ein Bad nahm, wurde er von Aigisthos und Klytaimnestra erschlagen, auch deswegen, was er ihr und der Iphigenia angetan hatte.
Nach der Tat hatte Aigisthos große Angst vor Orestes, da er sich vor dessen Blutrache fürchtete. Dazu aber hatte Apollo ihn aufgefordert. Er sollte den Mord an seinem Vater Agamemnon rächen. Unter einer List gelangte Orestes zusammen mit seinem Freund Pylades in die Burg des Aigisthos. Sie hatten sich verkleidet und meldeten dem Aigisthos den Tod des Orestes. In der darauffolgenden Nacht erschlugen sie dann Aigisthos und Orestes tötete mit schwersten Hemmungen seine Mutter Klytaimnestra.
Nach dem Mord an seiner Mutter wurde Orestes von den Erinyen, den Rachegöttinnen, verfolgt, die ihm Tag und Nacht keine Ruhe liessen. Wir würden sie heute als seine Gewissensbisse interpretieren. Orestes flüchtete sich nach Delphi in den Tempel des Apollo, der ihm den Muttermord befohlen hatte. Er wird von Apollo entsühnt, aber die äußere Entsühnung reichte nicht. Weiterhin wurde er von den Erinyen bedrängt. Jetzt kommt Athena ins Spiel, die ihn auffordert nach Athen zu gehen und sich einem Gericht zu stellen. Die Athener fordern, daß Athena das Urteil spricht. Die aber weigert sich, sondern überträgt den Athenern selbst diese Aufgabe. Sie setzt einen Rat geschworener Richter aus Bürgern der Stadt ein. Dieser Rat, der nach dem Versammlungsort Areopag hieß, sollte für alle Zeiten Bestand haben. Er bestand aus einer geraden Anzahl von Männern. Das Urteil wurde gefällt, indem schwarze und weiße Stimmsteine in eine Urne geworfen wurden. Sollte das Urteil unentschieden ausfallen, dann würde Athena - wie sie vor der Abstimmung bereits verkündete - einen weißen Stein in die Urne werfen. D.h. bei Gleichstand der Stimmen wäre der Angeklagte frei.
Das Rückseitenmotiv stammt nun aus der Zeit, in der Orestes sich in Athen den Richtern gestellt hatte. Athena wirft ihren Stimmstein in die Urne. Damit war Orestes freigesprochen. Danach gelingt es Athena, die Erinyen von dem Segen einer solchen Rechsordnung zu überzeugen. So werden aus den Erinyen, den Rachegöttinnen, die Eumeniden, die Wohlmeinenden.
In Euripides' Iphigenia kann ein Teil der Erinyen erst befriedigt werden, nachdem Orestes das Palladion, das hölzerne Artemisbild aus dem Land der Taurer geholt und nach Attika gebracht hat. Dabei befreit er seine Schwester Iphigenia. Der Sage nach hat Orestes später noch lange in Mykene geherrscht, bis er in hohem Alter an einem Schlangenbiß starb.
Hintergrund:
Die Atriden wurden von der Antike bis in unsere Zeit immer wieder zum Stoff von Dramatikern. Die Auffassung und die Interpretation der Mordtaten untescheidet sich bei den einzelnen Verfassern oft beträchtlich. Das Schicksal des Orestes wurde bereits in der Odyssee erwähnt, die ältesten und berühmtesten Stücke allerdings stammen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Aber selbst Sartre hat noch 1942 sein Drama 'Die Fliegen' über Orestes geschrieben. Ich werde mich hier überwiegend auf Aischylos stützen. Er hat den mythologischen Stoff in seiner Trilogie 'Oresteia' , bestehend aus den Tragödien 'Agamemnon', 'Die Choephoren' (Das Totenopfer) und 'Die Eumeniden', bearbeitet, die 458 v.Chr. aufgeführt wurden.
Welche übergeordnete Bedeutung hat nun die Szene in Athen und warum wirft Athena einen weißen Stein in die Stimmurne? Apollo hatte Orestes zum Muttermord aufgefordert, um den Mord an seinem Vater zu rächen. Damit ist Apollo hier noch der typische Vertreter der archaischen Blutrache. Athena aber sehen wir bei Aischylos als Göttin, die im Gegensatz zu Apollo eine staatlich rationale Rechtsprechung.einführt. Wir befinden uns also mit der Sage von Orestes und den Eumeniden - so wie Aischylos es sieht - am Beginn einer kulturellen Wende. Ihm kommt es jetzt nicht mehr allein auf Orestes an, sondern er erhebt die Problematik auf eine allgemeine, menschheitsgeschichtliche Ebene. Es geht um das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, seine Freiheit und Unabhängigkeit von der Herrschaft der Götter. Eine archaisch-barbarische Epoche wird abgelöst von einer neueren, humanen. Es mutet merkwürdig an, daß die Erinyen den Muttermörder Orestes gnadenlos verfolgen, nicht aber die Gattenmörderin Klytaimnestra. Dies ist nur zu verstehen aus chthonischen Vorstellungen: Mit der Mutter ist der Sohn durch sein Blut verbunden. Nicht aber Klytaimnestra mit ihrem Gatten. Apollo sieht im Gegensatz dazu menschliche Bindungen, die über die Blutsbande hinausgehen, weil sie aus freiem Willen eingegangen werden, wie die Ehe. Während die Erinyen prähellenische Gottheiten sind, ist Apollo ein Olympier. So beginnt bei Apollo bereits eine Ablösung von den archaischen Sitten, aber erst durch Athena wird die neue Gesellschaftsordnung eingeführt. Und erst dadurch wird der Friede in der Polis gesichert. Athena hält hier nicht mehr Speer und Schild, sondern trägt einen Palmzweig über der Schulter!
So weist die Rs. dieser Münze auf eine wichtige Grundlage des Staates und des menschlichen Zusammenlebens hin. Ohne geordnetes Recht ist keine staatliche Gemeinschaft möglich. Dazu paßt auch, daß es eine Reihe von Darstellungen gibt, die Athena als Boule (Rat der Stadt) zeigen. Athena wird mit der Boule gleichgesetzt. Kein Wunder auch, daß sich diese Darstellungen überwiegend in Kleinasien finden. Wird doch dadurch die Verknüpfung mit dem griechischen Mutterland besonders deutlich. Und die Zurückführung der staatlichen Strukturen auf die mythologische Vorzeit der Griechen, verleiht jeder Stadt eine besondere Bedeutung.
Zum Stimmstein der Athena gibt es noch eine interessante Meinung von Kirchhoff. Bei einer Verhandlung auf dem Areopag war in der Antike auch der König anwesend, durfte aber eigentlich nicht abstimmen. So mußte er erst seinen Kranz, das Abzeichen seiner Würde, abnehmen und so zum Bürger werden, wenn er seinen Stimmstein in die Urne warf. Die Sage vom Stimmstein der Athena, wo sogar eine Göttin mitabstimmte, gab ihm sozusagen aus der Mythologie begründet das Stimmrecht.
Hinzugefügt habe ich ein Bild des Areopags. Es ist ein felsiger Hügel unterhalb der Akropolis. Sein Name bedeutet Areshügel. Hier soll der Sage nach über Ares gerichtet worden sein, nach seinem Mord an Halirrhotios. Dieser hatte sich an einer Tochter des Ares vergangen. Poseidon, der Vater des Toten, klagte Ares an. Angeblich habe auf dem einen Felsen der Ankläger, auf dem anderen der Verteidiger gesessen.
Ares aber wurde freigesprochen, weil es keine Zeugen gab. Dies war die erste Verhandlung eines Tötungsdeliktes auf dem Areopag. Die zweite Verhandlung war dann die des Orestes. Diese Darstellung unterscheidet sich also etwas von der des Aischylos. Das Bild stammt von
http://www.aeria.phil.uni-erlangen.de/
Quellen:
Hamburger, Käthe, Von Sophokles zu Sartre, Griechische Dramenfiguren antik und modern, 1962
Kirchhoff, Johann Wilhelm Adolf, Zur Frage vom Stimmstein der Athena, Berlin 1875
in: Monatsberichte der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1874, S.105-115
Kerenyi, Karl, Prometheus, Die menschliche Existenz in griechischer Deutung, 1959
Karl Kerenyi, Griechische Mythologie
Der Kleine Pauly
Mit freundlichem Gruß