Der Gestus des "spuere in sinum"

Alles was so unter den Römern geprägt wurde.

Moderator: Homer J. Simpson

Antworten
Benutzeravatar
chinamul
Beiträge: 6055
Registriert: Di 30.03.04 17:05
Wohnort: irgendwo in S-H
Hat sich bedankt: 0
Danksagung erhalten: 78 Mal

Der Gestus des "spuere in sinum"

Beitrag von chinamul » So 20.05.12 16:42

Wenn ich mich recht erinnere, ist dieser Gestus in den zurückliegenden Jahren bereits mehrfach thematisiert worden, ohne daß es jedoch zu einer abschließenden, d. h. in Fachkreisen allgemein akzeptierten Deutung sowohl des Gestus selbst als auch der ihn vollziehenden Gestalt gekommen zu sein scheint.
Zunächst einmal bedarf es der Richtigstellung der Grammatik: Es muß „spuere in sinum“ heißen, da auf die Frage „wohin“ der lateinische Richtungskasus antwortet, und das ist nun mal der Akkusativ.

Des weiteren hat das Wort „sinus“ mehrere Bedeutungen, die hier alle in Betracht zu ziehen sind. Da ist zunächst die schlichte Übersetzung mit „Busen“, wobei der heutige Sprachgebrauch darunder die weibliche Brust versteht. Das aber ist eigentlich nicht korrekt, denn gemeint ist ursprünglich vielmehr das Tal zwischen den Brüsten (s. „Meerbusen“!). Denkbar ist, daß dieser Hohlraum als ein passendes Versteck für allerlei Dinge angesehen wurde, die man gerne verborgen halten wollte:
Schillers „Ibykus“:
Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht er's im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
Macht schnell die Schuldbewußten kund.


Wenn der Italiener etwas „in petto“ (lat. „in pectore“, also „in der Brust“ hat, soll das ja auch zunächst noch keiner erfahren.

Eine zweite Bedeutung von „sinus“ ist ein Bausch im Gewand, wie er etwa entsteht, wenn man es rafft. In der so entstehenden Tasche lassen sich sehr gut Dinge vor unerwünschten Blicken schützen.
Wieder Schiller, diesmal aus der „Bürgschaft“:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:


Es ist also keineswegs ausgemacht, daß die Gottheit sich auf ihre eigene entblößte Brust spuckt, wogegen auch deren Kopfhaltung sprechen würde, sondern es ist ebensogut möglich, daß sie es auf den vom Körper abgezogenen Teil ihres Gewandes tut. Der Bedeutung dieser zweifellos symbolisch aufzufassenden Handlung dürften wir allerdings auch mit diesem Erklärungsversuch nicht sehr viel näher gekommen sein, es sei denn, daß jemand damit etwas anfangen kann.

Schließlich möchte ich hier noch zwei Münzen des Hadrianus mit der Nemesis-Pax-Victoria vorstellen, die ich in jüngster Zeit erwerben konnte:
hadr den nemesis spuens.jpg
HADRIANUS 117 – 138
AR Denar Rom 134 – 138
Av.: HADRIANVS AVG COS III P P - Belorbeerter Kopf rechts
Rv.: VICTO - RIA AVG - Geflügelte Nemesis (Pax-Victoria) nach rechts gehend; mit der Rechten im wohl apotropäischen Gestus des spuere in sinum den oberen Rand ihres Gewandes vom Körper abziehend, in der Linken Zweig
RIC 282
3,53 g

hadr nemesis spuens.jpg
HADRIANUS 117 – 138
Æ Dupondius Rom 134 – 138
Av.: HADRIANVS AVG COS III P P - Belorbeerter Kopf rechts
Rv.: Ohne Legende S C - Geflügelte Pax Nemesis nach rechts stehend; mit der Rechten im wohl apotropäischen Gestus des spuere in sinum den oberen Rand ihres Gewandes vom Körper abziehend, in der Linken Zweig
RIC 828; C. 1373
13,39 g

Gruß

chinamul
Nil tam difficile est, quin quaerendo investigari possit

Benutzeravatar
Peter43
Beiträge: 13032
Registriert: Mi 11.08.04 02:01
Wohnort: Arae Flaviae, Agri Decumates
Hat sich bedankt: 205 Mal
Danksagung erhalten: 1920 Mal
Kontaktdaten:

Re: Der Gestus des "spuere in sinum"

Beitrag von Peter43 » So 20.05.12 18:37

Tatsächlich gibt es über das 'spuere in sinum', griechisch 'ptyein eis ton kolpon', verschiedene Ansichten. Roßbach in Roscher lehnt die apotropäische Bedeutung ab und hält die Geste für einen Ausdruck der Bescheidenheit. Dieser Meinung schließt sich auch LIMC an (LIMC VI, sv. Nemesis 232), wobei es den apotropäischen Charakter nicht zu erwähnen vergißt: The curious figure on the rev. is Nemesis who symbolizes self-restraint in victory. Her spitting in the bosom (spuere in sinum) is apotropaic in nature. The type itself was first used by C. Vibius Varus in 49 BC (Cr.494/35). Claudius' reuse of this type was surely due to his personal antiquarianism.

Diese Geste ist seit dem Frühhellenismus bekannt. Angewandt wird sie eigentlich von Schutz- undf Beistandsuchenden, die Unheil und Strafe von sich abwenden wollen. Daß Nemesis mit dieser Geste dargestellt wird bedeutet wahrscheinlich, daß sie diese Handlung paradigmatisch und stellvertretend für die Menschen vollzieht. Das ist dann ähnlich wie bei den Göttern, die mit einer Patera über dem brennenden Altar dargestellt werden. Sie opfern natürlich auch nicht für sich selbst, sondern stellvertretend für die Menschen.

Mit freundlichem Gruß
Dateianhänge
nikopolis_sept_severus_HrJ(2011)8_14_35_1.jpg
Omnes vulnerant, ultima necat.

Benutzeravatar
chinamul
Beiträge: 6055
Registriert: Di 30.03.04 17:05
Wohnort: irgendwo in S-H
Hat sich bedankt: 0
Danksagung erhalten: 78 Mal

Re: Der Gestus des "spuere in sinum"

Beitrag von chinamul » So 20.05.12 20:45

Peter43 hat geschrieben:Daß Nemesis mit dieser Geste dargestellt wird bedeutet wahrscheinlich, daß sie diese Handlung paradigmatisch und stellvertretend für die Menschen vollzieht. Das ist dann ähnlich wie bei den Göttern, die mit einer Patera über dem brennenden Altar dargestellt werden. Sie opfern natürlich auch nicht für sich selbst, sondern stellvertretend für die Menschen.
Das ist ein interessanter Gedanke, der später im christlichen "agnus dei qui tollis peccata mundi" (= "Lamm Gottes, das du die Sünden der Welt auf dich nimmst") durchaus eine Entsprechung gefunden haben könnte.
Leider fürchte ich, daß wir, wie so oft, auch im vorliegenden Falle immer nur mehr oder weniger einleuchtende Vermutungen anstellen können. Das gilt übrigens auch auch für den vieldiskutierten Finger des Harpokrates.

Dennoch: Vielen Dank für Deinen wie immer kompetenten Kommentar zu meinen Ausführungen!

Gruß

Horst
Nil tam difficile est, quin quaerendo investigari possit

Benutzeravatar
Homer J. Simpson
Moderator
Beiträge: 11584
Registriert: Mo 17.10.05 18:44
Wohnort: Franken
Hat sich bedankt: 229 Mal
Danksagung erhalten: 1217 Mal

Re: Der Gestus des "spuere in sinum"

Beitrag von Homer J. Simpson » So 20.05.12 21:12

Sicher mußte man sich auch zum Zwecke der Abwehr böser Mächte nicht richtig ins Gewand spucken, aber die Geste wurde zumindest angedeutet. Diese Geste hat sich bei uns verloren, aber das apotropäische Ausspucken ist bis heute gegenwärtig: Wenn wir "Toi-toi-toi" sagen, ist das nichts anderes, lautmalerisch umschrieben!

Homer
Wo is'n des Hirn? --- Do, wo's hiig'hört! --- Des glaab' i ned!

Benutzeravatar
Peter43
Beiträge: 13032
Registriert: Mi 11.08.04 02:01
Wohnort: Arae Flaviae, Agri Decumates
Hat sich bedankt: 205 Mal
Danksagung erhalten: 1920 Mal
Kontaktdaten:

Re: Der Gestus des "spuere in sinum"

Beitrag von Peter43 » So 20.05.12 21:40

Bei Plinius, Nat. hist., 28. Buch, Kap. 4 (S.481) steht etwas darüber: 'Auch wenn wir von einer Gottheit die Verzeihung eines gar kühnen Unternehmens suchen, speien wir in unseren eigenen Schoß.'
http://books.google.de/books?id=Sp9AAAA ... &q&f=false

Jochen
Omnes vulnerant, ultima necat.

Benutzeravatar
Homer J. Simpson
Moderator
Beiträge: 11584
Registriert: Mo 17.10.05 18:44
Wohnort: Franken
Hat sich bedankt: 229 Mal
Danksagung erhalten: 1217 Mal

Re: Der Gestus des "spuere in sinum"

Beitrag von Homer J. Simpson » So 20.05.12 22:30

Oder wenn wir geistigen Getränken gar zu sehr zugesprochen haben... :lol:

Homer
Wo is'n des Hirn? --- Do, wo's hiig'hört! --- Des glaab' i ned!

Antworten

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: plutoanna66, Xanthos und 10 Gäste