Mythologisch interessante Münzen

Alles was so unter den Römern geprägt wurde.

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Peter43
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Beitrag von Peter43 » Do 18.06.09 19:59

Hadad - Jupiter Heliopolitanus

Syrien, Dium, Geta als Caesar, 209-211
AE 24, 11.37g
geprägt 205/6 (= Jahr 268)
Av.: POYP - C GETAC K
Büste, drapiert und cürassiert, barhäuptig, n.r.
Rv.: HZC - DEIHN - WN (Jahr 268)
Hadad (Jupiter Heliopolitanus), in typisch schuppiger Kleidung und mit Kalathos
darunter Stierhörner, frontal stehend, hält Adlerszepter in der Linken und Nike
in der Rechten; re und li zu seinen Füßen die nach außen gewandten Vorderteile
zweier Stiere.
Ref.: Spijkerman p.118, 6, pl 24, 6; SNG ANS, 1281-2; BMC 1; Lindgren 2202;
Rosenberger IV, 34, 5; Meshorer 244; Hendin 848
sehr selten, SS, braune Patina

Mythologie:
Hadad ist ein westsemitischer Wetter- und Gewittergott, Sohn des Himmelsgottes Anu. entspricht dem akkadischen Adad. Seine Verehrung ist seit dem Ende des 3.Jt. v.Chr. nachweisbar, in Mesopotamien v.a. aus amoritischen Personennamen. Dort verkörperte er den fruchtbringenden Regen, Blitz, Donner und Hagel, und ist verantwortlich für Dürre, Überschwemmung und Bodenversalzung. In Syrien wurde Hadad als Baal-Hadad (so in den Mythen von Ugarit) zum Baal schlechthin. Als sein Sitz galt der heilige Berg Zaphon (Mons Casius) südlich der Orontesmündung (siehe dazu im Mythologiethread den Artikel über Zeus Kasios). In der hellenistisch-römischen Antike wurde er mit Zeus-Jupiter gleichgesetzt., und besonders in Baalbek, Hierapolis und Dura-Europos als Jupiter-Heliopolitanus verehrt. Die berühmte Trias von Heliopolis aus Jupiter, Minerva und Hermes (Hadad, Atargatis/Astarte, Adon)
stammt wahrscheinlich aus augusteischer Zeit. Er wurde manchmal auch mit Jupiter Dolichenus assoziiert, einer weiteren syrischen Version.

Spuren des Kultes von Jupiter Heliopolitanus sind gefunden worden in Athen, Rom, Pannonien, Gallien und Britannien, wohin sie durch römische Soldaten gebracht worden waren. Es gab sogar einen Tempel des Jupiter Heliopolitanus in Rom auf dem Janiculus, errichtet wahrscheinlich in der Zeit der Antonine und der Severer, als der Kult sich in Rom etablierte. Dieser Tempel hat wahrscheinlich das Heiligtum im Hain der Göttin Furrina überbaut und befand sich außerhalb des pomeriums, der heiligen Grenze der Stadt. Die Quelle im Tempel des Jupiter Heliopolitanus, die es heute noch gibt, war ursprünglich wohl die Quelle der Furrina. Gefunden wurde die Inschrift Iovi optimo maximo Heliopolitano Augusto, genio Forinarum et cultoribus huius loci. Sie zeigt noch die Verbindung dieser beiden Kultstätten. 341 wurde der Tempel von den Christen eingerissen.

Eigenartigerweise gibt es auf den Münzen von Heliopolis keine Darstellungen des Jupiter Heliopolitanus. Er ist dort nur durch seinen Tempel vertreten mit der Legende IOMH = Jupiter Optimus Maximus Heliopolitanus. Darstellungen gibt es nur aus anderen Städten, z.B. Ptolemais-Akka, Neapolis, Eleutheropolis, Diospolis-Lydda oder Nikopolis und eben Dium.

Ikonographie:
Die Darstellungen des Jupiter Heliopolitanus kann man in 3 Gruppen einteilen:
1. im Futteralgewand (Ependytes)
2. die baetylische, und
3. die griechische
Auf Münzen des Geta sowie des Elagabal ist eine frontal stehende Gottheit mit Hörnerkalathos dargestellt, die von zwei Stieren oder Stierprotomen flankiert wird und sich mit der rechten Hand auf ein von einem Adler bekröntes Szepter aufstützt; auf der seitwärts ausgestreckten linken Hand steht eine kleine Nikefigur. Bekleidet ist die Gottheit mit einem futteralartig um den Körper gelegten Gewand (dem sog. Ependytes), das in einzelne Felder unterteilt ist. Stiere, Hörnerkalathos und Ependytes stellen ikonographische Merkmale dar, die für den nordwestsemitischen Gott Hadad charakteristisch sind. Offenbar besaßen mehrere Städte der Region noch in hellenistisch-römischer Zeit entweder ein entsprechendes Kultbild des Hadad, das sie auf ihre Münzen prägen ließen, oder sie verwendeten den berühmten Figurentypus des Jupiter Heliopolitanus stellvertretend für ihre lokale Hauptgottheit.
Dabei blieb seine Ikonographie mehr oder minder stark orientalisch geprägt. Besonders verbreitet war der Typus des stehenden, von zwei Stieren flankierten Hadad im
Futteralgewand, der in der erhobenen linken Hand eine Peitsche und in der Rechten eine oder mehrere Ähren hält. Es ist vermutlich auf die überregionale Bedeutung des Zeus Hadad von Heliopolis (Jupiter Heliopolitanus) zurückzuführen, daß gerade dieser Figurentypus so häufig vertreten ist.

Das Münzmotiv aus Dion ähnelt dem berühmten Kultbild von Heliopolis, weist aber in Armhaltung und Attributen einige Unterschiede auf, die bestimmte Funktionen der Gottheit hervorheben. So unterstreicht das Szepter auf dem Münzbild den Rang des Gottes als 'Herrn der Polis'. Die Nike in der Hand des Gottes hebt dessen Sieghaftigkeit hervor; das Motiv ist dem kanonischen Darstellungstypus des Zeus Nikephoros entlehnt, wie er auf Münzen aus Gadara und Skythopolis überliefert ist. Insgesamt ist hier mit Nike und Adlerszepter die Verwandtschaft des Hadad mit Zeus überdeutlich. Der innerhalb der Dekapolisregion seltene Typus des Zeus Hadad im Ependytes tritt westlich des Jordan seit der Zeit des Marc Aurel, besonders häufig aber während der Severerdynastie, in mehreren Varianten auf den Münzen einer ganzen Reihe von Städten auf .

Im Unterschied zum griechischen Typ wird Heliopolitanus hier unbärtig dargestellt. Die Stiere werden im Orient und in Anatolien üblicherweise den Wettergöttern beigesellt, als Begleit- oder Tragtier. Gewöhnlich gehören sie zur Rasse der Buckelrinder. Am auffallendsten ist natürlich das Futteralgewand. Wir kennen es auch von der Artemis von Ephesos oder der Aphrodite von Aphrodisias. Eingeteilt wird es durch senkrechte und waagerechte Bänder in Reihen und Felder. Diese sind gefüllt mit Darstellungen von Göttern, Sternen- und Sonnenmotiven und machen damit aus Heliopolitanus einen pantheistischen Gott und den Herrn des Universums. Erhalten gebliebene Statuen zeigen, daß es sich dabei auch um Tierkreiszeichen handelt. Andere Abbildungen zeigen zusätzlich die palmyrenische Trias aus Bel, Aglibol und Yarhibol.

Zu dieser Emission:
Die Kulte von Dion sind bislang nur durch numismatische Quellen überliefert; dabei handelt es sich um Münzemissionen aus der Regierungszeit des Septimius Severus, die vermutlich anläßlich eines drohenden Partherkrieges und der damit zusammenhängenden römischen Truppenbewegungen geprägt wurden, in einer Zeit also, in der sich Rom offenbar auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Parthern vorbereitete. Vielleicht war dies auch der Grund, den Stadtgott als Nikephoros darzustellen.

Baalbek:
Jupiter Heliopolitanus war der Hauptgott der syrisch-hellenistischen Stadt Heliopolis (= Stadt des Sonnengottes Helios), in der früher Baal-Biq`ah verehrt wurde (daher der heutige Name Baal'bek der Stadt im Libanon).

Die Geschichte von Baalbek geht zurück ungefähr 5000 Jahre. Ausgrabungen neben dem Jupitertempel haben die Existenz einer Besiedlung erwiesen, die auf die Frühe Bronzezeit datiert werden kann (2900-2300 v.Chr.) Die Phönikier ließen sich um 2000 v.Chr. hier nieder und bauten den ersten Tempel, der ihrem Hauptgott Baal gewidmet war.

Als Alexander der Große im vierten vorchristlichen Jahrhundert erschien, wurde der Ort in 'Heliopolis' (Sonnenstadt) umbenannt. Baal wurde dem Sonnengott Helios gleichgesetzt, was sich ohne Umstände machen ließ, weil Baal ohnehin als Gott der Fruchtbarkeit, des Gewitters, des Himmels und der Sonne verehrt wurde. Die Römer, die um die Mitte des ersten Jahrhunderts kamen, identifizierten ihn mit Jupiter, dessen Funktionen sich mit denen Baals und des Helios ebenfalls vereinbaren ließen. 'Jupiter Heliopolitanus' nannten die Römer ihre Baalbeker Gottheit, und sie bauten das Heiligtum drei Jahrhunderte lang zu einem der größten Tempelbezirke ihres Imperiums aus. Die heutigen Tempelruinen stammen aus derRegierungszeit des Septimius Severus, dessen erste Münzen diesen Tempel zeigen. Die großen Höfe wurden erst unter Caracalla und Philipp I. fertig.

Dabei blieb von den griechischen Bauten kaum noch etwas übrig. Nachdem im vierten Jahrhundert das Christentum eingeführt worden war, ließ der byzantinische Kaiser Theodosius den Tempel teilweise abreißen (8 Säulen wurden abgebaut und zum Bau seiner Basilika Hagia Sophia nach Constantinopel verschifft) und im Bereich des Tempels eine Kirche zu Ehren der Heiligen Barbara errichten, die heute noch in Baalbek verehrt wird. Doch die Kirche, die in den Tempeleingang gebaut worden war, war wie ein Stachel in der Seite des Gottes. Die Landbevölkerung beobachtete, daß der Fluß sich in jeder Regenzeit rot färbte mit dem Blut des alten semitischen Gottes - dem roten Lehm.

Hinzugefügt habe ich
(1) ein Bild der Bronzestatuette des Jupiter Heliopolitanus, ex coll. Charles Sursock, Louvre/Paris. Diese Statue unterscheidet sich etwas von der Münzdarstellung: Die Statue steht auf einer dekorierten Basis, die Stiere stehen nach vorne und der Gott hält wahrscheinlich eine Peitsche in der erhobenen Rechten und Getreideähren in der Linken. Die Stellung der Stiere ist bedingt durch den Platz auf der Münze. Die Peitsche stellt hier nicht das Attribut des Sonnengottes dar, sondern ist wohl ein Blitzsymbol (aus: Rene Dussaud, Jupiter Heliopolitain, Bronze de la collection Charles Sursock), und
(2) ein Bild von den Ruinen von Baalbek, wie man sie heute sehen kann.

Quellen:
- Der kleine Pauly
- Youssef Hajjar, Jupiter Heliopolitanus, in: Maarten Jozef Vermaseren, Die Orientalischen
Religionen im Römerreich, 1997 Brill
- zu Furina:
http://www.thaliatook.com/OGOD/furrina.html
http://www.aztriad.com/furrina2.html Bilder!
- zu Baal:
http://www.rafa.at/11_baal.htm
http://www.ccel.org/s/schaff/encyc/ency ... .ix.ii.htm
- zum Christentum:
http://www.vinland.org/scamp/grove/kreich/chapter9.html
- zu Dium:
http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servl ... clnk&gl=de
- zu Baalbek:
http://www.berro.com/lebanese_touristic ... albeck.htm

Mit freundlichem Gruß
Dateianhänge
dium_geta_BMC1.jpg
Heliopolitanus_louvre.jpg
baalbekst_01g.jpg
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Beitrag von Peter43 » Do 18.06.09 20:07

Io/Hathor (und Marnas)

Münzen mit der Abbildung der Io habe ich nur von Gaza gefunden. Warum gerade von dort, ist nicht sicher erklärbar. Die Verbindung zwischen Io und Gaza ist wirklich sehr dünn. Ein Ansatz wäre die Verbindung von Io zu ägyptischen Gottheiten wie Isis oder insbesondere Hathor. Vielleicht gab es dort einen Tempel der Hathor, der bis heute noch nicht gefunden wurde (CNG). Dann ist es gut möglich, daß diese Göttin von den Griechen mit Io identifiziert wurde.

Münze:
Judaea, Gaza, Julia Domna, 193-211
AE 22, 6.18g
geprägt 206/7 (Jahr 267 der Ära von Gaza)
Av.: IOVLA - DOMNA
Büste, drapiert, n.r.
Rv.: [G]AZA - EI[W]
Io/Hathor, in langer Kleidung, auf der re. Seite n.l. stehend, reicht der Stadtgöttin
die Hand, die in langer Kleidung und mit Mauerkrone n.r. steht und im li Arm ein
Cornucopiae hält. Zwischen ihnen das phoenikischeMem, das Symbol für Marnas,
den Hausgott von Gaza.
im Abschnitt Zeta Xi Sigma (= Jahr 267 der Ära von Gaza)
Ref.: BMC 128
fast SS, Schrötlingsschaden bei 10Uhr
Anm.: Manchmal findet sich Io auch in Gestalt eines Kalbes zu Füßen der Stadtgöttin.

Io:
Io (eigentlich ein Kurzname für Iole, Iokaste o.ä.), eine Nymphe, war die Tochter des argolischen Flußgottes Inachos und der Melia. Sie war eine für ihre Schönheit berühmte Priesterin der Hera. Iynx, eine Tochter des Pan und der Echo, hatte einen Zauber auf Zeus gelegt, der ihn in Liebe zu Io entbrennen ließ. Zeus umhüllte sie mit einem Nebel und machte sie sich zu Willen. Das aber bemerkte seine eifersüchtige Gattin Hera. Um seinen Fehltritt zu vertuschen, verwandelte Zeus Io in eine weißglänzende Kuh. Hera entdeckte dies jedoch und forderte die Kuh als Geschenk, was Zeus ihr nicht abzuschlagen vermochte. Hera beauftragte sodann den hundertäugigen Riesen Argos Panoptes (der Allessehende), Io nach Mykene zu bringen und dort zu bewachen. Um seine Geliebte zu befreien entsandte Zeus den Himmelsboten Hermes zu Argos. Dieser schläferte ihn mit seinem Flötenspiel ein und erschlug ihn (woher er den Namen Argeiphontes = Argostöter erhielt), so daß Io - immer noch in Tiergestalt - zu entfliehen vermochte. Zur Erinnerung pflanzte Hera die Augen des Argos in die Schwanzfedern des Pfaus. Dann sandte Hera eine Rinderbremse (Tisiphone), die Io unablässig verfolgte und sie in Raserei versetzte. (Das tiefe Surren dieser für Rinder lebensgefährlichen Bremse vermag ganze Kuhherden in die Flucht zu treiben.) Auf ihrer Flucht überquerte Io das Meer, das später nach ihr Ionisches Meer benannt wurde und überschritt die Furt von Europa nach Asien, die ihren Namen Bosporos (Kuhfurt) der Io verdankt. Sie galoppierte zum Donaudelta, nach Skythien und zur Krim. Im Kaukasus traf sie Prometheus, der immer noch an den Felsen geschmiedet war und der Io ihr künftiges Schicksal weissagte. Über Indien, Arabien und Äthiopien kam sie schließlich nach Ägypten. Dort flehte Io die Götter an, sie zu erlösen. Hera willigte auf inständiges Bitten des Zeus ein und gab ihr ihre menschliche Gestalt zurück, und sie gebar ihm den Epaphos. Hera aber, deren Rachsucht immer noch nicht gestillt war, bat die Kureten ihn unsichtbar zu machen und die ließen ihn verschwinden. Io irrte in ganz Syrien umher, wo er von der Frau des Königs von Byblos aufgezogen werden sollte. Als sie ihn gefunden hatte, kehrte sie nach Ägypten zurück, heiratete dort den König Telegonos und führte den Kult der Demeter ein, die von den Ägyptern Isis genannt wurde. Auch Io selbst wird mit Isis gleichgesetzt, so wie Epaphos mit dem Apisstier. Sie soll dort die Nilschwellung verursacht und den Seeleuten das Leben gerettet haben. Epaphos heiratete Memphis und wurde der Vater der Libya, von dem Libyen seinen Namen hat.

Diese griechischen Vorstellungen können allerdings nicht bestehen, weil der Isiskult viel älter ist als die Mythologie der Io. Es ist möglich, daß diese Wanderungen die Ausbreitung des Demeterkultes widerspiegeln und gleichzeitig den Anspruch der Griechen untermauern sollen, eine Oberhoheit über diese Länder zu beanspruchen.

In Aischylos' Prometheus ist Io nicht mehr die Herapriesterin, sondern ein schüchternes Königskind, das von Zeus durch Träume heimgesucht wird, sich ihrem Vater anvertraut, um Schutz vor Zeus zu finden. Ein Orakel des Gottes verstößt sie auf weite Fahrt, bei deren Antritt sie von Wahnsinn befallen wird und ihr ein Kuhhaupt erwächst. Sie wird vom Riesen verfolgt und nach dessen Ende von der Stechmücke gejagt. Durch alles Leid treibt aber Zeus sie dem Lande der Erfüllung zu..

Sophokles schrieb ein Satyrdrama 'Inachos'. Für den Kyrenaier Kallimachos war der festliche Empfang Ios durch die ägyptischen Götter ein Symbol der Verschmelzung griechischer und ägyptischer Kultur.

Nach Herodots Historien war Io die Tochter des Königs von Argos. Die Phönizier kamen, so Herodot, nach Argos, um ihre Waren zu verkaufen. Als die Königstochter Io zu den Ständen kam, raubten die Phönizier sie, woraufhin die Griechen die Tochter des Königs von Tyros raubten, die Europa hieß. So seien, so berichtet Herodot, die Frauenraube entstanden, wie auch der Raub der Helena (Ilias) und der Medea (Argonautensage). Allerdings berichtet Herodot auch, daß die Phönizier behaupten, daß sie schwanger vom Kapitän des Schiffs gewesen sei, weswegen sie, aus Furcht vor dem Zorn ihrer Eltern, mit den Phöniziern mitgegangen sei.

Die antike Deutung Ios als Mondgöttin (u.a. wegen der Kuhhörner) fand noch bis heute Billigung (so auch noch von Ranke-Graves). Sie ist aber eher aus dem Kultkreis der βοωπις 'Ηρα (der kuhäugigen Hera) herzuleiten, deren Hypostase Io ist und deren älteste Erscheinungsform sie spiegelt. Zu vergleichen sind ähnliche Motive im Mythos von den Proitiden (Der Kleine Pauly).

Anm.:
(1) Hypostase = Personifikation einer Eigenschaft oder eines Beinamens, Ausgestaltung zu einer eigenen Gottheit
(2) Proitiden = die 3 Töchter des Proitos, Lysippe, Iphinoe und Iphianassa. Waren Priesterinnen der Hera, fühlten sich wegen ihrer Schönheit und des Reichtums ihres Elternhauses der Göttin überlegen (oder verweigerten nach einer anderen Überlieferung die Dionysosweihen) und wurden darüber wahnsinnig. Sie hielten sich für Kühe, gingen auf den Weiden umher, muhten wie Kühe, fühlten ständig nach den Hörnern auf ihrem Kopf und fürchteten, vor den Pflug gespannt zu werden. Sie sollen von Melampos geheilt worden sein.

Hathor:
Die ägyptische Göttin Hathor hat mit Io gemeinsam, daß sie auch in Kuhgestalt dargestellt wird. Sie ist eine der ältesten ägyptischen Götinnen, bekannt bereits aus der 1. Dynastie. Sie war zunächst wohl eine lokale Gottheit, die dann zur Himmelsgöttin des Westens aufstieg und endlich zur allumfassenden Muttergottheit wurde. Ikonografisch unterschied sie sich nicht viel von der älteren Himmelsgöttin Bat, die schließlich in ihr aufging. Zunächst wurde sie als Kuh verehrt, dann dargestellt als Göttin mit Kuhhörnern, die nach außen zeigen, und mit der Sonnenscheibe dazwischen. Sie war die Gemahlin des Sonnengottes Ra und gebar ihm den Horus. Später gab sie Symbole und Funktionen an die jüngere Isis ab. Beide waren Mutter- und Todesgöttinnen. Seit dem neuen Reich ist Hathor nicht mehr von Isis zu unterscheiden.

Marnas:
Auffallend auf der Münze ist das Zeichen zwischen den beiden Gottheiten. Es ist der phoenikische Buchstabe Mem (M, es gibt aber noch eine andere Form) und ist als Anfangsbuchstabe das Symbol für den Gott Marnas. Marnas gibt es nur in Gaza. Es ist zwar in Ostia eine Inschrift auf einer Statue des Gordian III. gefunden worden, aber ob es tatsächlich ein Heiligtum des Marnas im Westen gab, ist unbewiesen. Der Name Marnas ist aramäisch und bedeutet 'Herr', also dasselbe, was wir auch von Hadad oder Baal gehört haben. Er war der Lokalgott und Beschützer von Gaza. Er wurde angesehen als der Gott des Regens und des Getreides und deshalb angerufen gegen Hungersnot. Er erscheint auf Münzen seit der Zeit des Hadrian. Deshalb wird angenommen, daß zu dieser Zeit sein Tempel errichtet wurde. Septimius Severus (oder Severus Alexander?) soll sich angeblich manchmal Luft gemacht haben, indem er den Namen des Marnas ausrief.

In Gaza wurde er identifiziert mit dem kretischen Zeus, dem Zeus Kretagenes. Es gilt als wahrscheinlich, daß Marnas die hellenistische Bezeichnung für den Gott Dagon ist. Sein Tempel, das Marneion - das letzte übriggebliebene Kultzenter aus der Zeit vor dem Christentum - wurde auf Befehl des römischen Kaisers Arcadius 402 niedergebrannt. Früher war das Betreten des Steinpflasters des Heiligtums streng verboten. Die Christen benutzten es zum Pflastern des öffentlichen Marktplatzes (Ikonoklastik). Die Anhänglichkeit aber an den alten Kult war so groß, daß die Einwohner von Gaza den Platz noch nach Jahren nicht betraten

Anmerkung:
Dagon war ein bedeutender nordwest-semitischer Gott, der Überlieferung nach des Getreides und der Landwirtschaft. Er wurde von den frühen Amoritern verehrt und von den Einwohnern von Ebla und Ugarit. Er war auch ein bedeutendes Mitglied, vielleicht sogar das Oberhaupt, des Pantheons der biblischen Philister.

Kunstgeschichte:
In archaischen Kunstwerken und bis in das 5.Jh. hinein wird Io als die von Argos bewachte Kuh dargestellt, im 5.Jh. als Frau mit angedeuteten Hörnern dar. Auf einem römischen Fresko im Haus der Livia in Rom (um 30 v.Chr.) sitzt sie in der Gestalt einer Frau auf einem Felsen, zwischen Argos und Hermes. Beliebt waren die Szenen 'Io und Argos (und Hermes)' und 'Ios Ankunft in Ägypten'besonders in der pompejanischen Wandmalerei. Zusammen mit Hermes, Argos und Hera erscheint sie auf Filaretes Reliefs an den Bronzetüren von St.Peter in Rom (1433-45). Corregio hat 1531 in seiner Reihe der Liebesabenteuer des Zeus die Vereinigung der Io mit der Wolke nicht ausgespart (Wien, KM)

Hinzugefügt habe ich
(1) das Bild einer rot-figurigen attischen Hydria, die dem Agrigent-Maler zugeschrieben wird. Es stammt aus 470-460 v.Chr. und befindet sich heute im Museum of Fine Arts in Boston /USA. Es zeigt den Augenblick, in dem Hermes sein Schwert zieht um auf den Riesen Argos Panoptes einzudringen, der bedeckt mit Augen Io bewachen soll. Links stehen Zeus und Hera und betrachten die Szene. (Das Bild ist aus mehreren Abschnitten des Bildes montiert worde.)
(2) das Bild eines pompejanischen Freskos aus dem Tempel der Isis, heute im Museo Archeologico Nazionale in Neapel. Das Fresko stammt aus dem 1. Jh. v.Chr. und zeigt die Ankunft der Io in Ägypten. Empfangen wird sie von Isis und dem kleinen Harpokrates.
(3) das Bild des Gemäldes 'Jupiter und Io' von Corregio, 1531/2, heute im Kunsthistorischem Museum in Wien.

Quellen:
Ovid, Metamorphosen
Aischylos, Prometheus
Apollodoros, Bibliothek
Der Kleine Pauly
Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon
Karl Kerenyi, Die Mythologie der Griechen
Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie
William Smith, Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology (online)
Aghion/Barbillon/Lissarrague, Heros et dieux de l'antiquite. Guide iconographique
Maarten Jozef Vermaseren, Die Orientalischen Religionen im Römerreich (online)
Robert Turcan, The Cults of the Roman Empire (online)
http://en.wikipedia.org/wiki/Dagon
http://www.theoi.com/Heroine/Io.html

Mit freundlichem Gruß
Dateianhänge
gaza_julia_domna_BMC128.jpg
Argos Panoptes.jpg
Arrival  olf Io in Egypt.jpg
Corregio Jupiter und Io.jpg
Zuletzt geändert von Peter43 am Sa 27.06.09 18:28, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von Peter43 » Sa 27.06.09 17:56

Saturn - der römische Gott des Ackerbaus

Münze:
Gallienus, 253-268
AR - Antoninianus, 3.4g, 22mm
Antiochia, 266/267
Av.: GALLIENVS AVG
Büste, mit Unterkinnbart, drapiert und cürassiert, mit Strahlenkrone, n.r.
Rv.: AETERNI - TAS AVG
Saturnus, bärtig, in Toga und mit Schleier, steht frontal, Kopf n.r., hält mit der re
Hand Gewand zusammen und in der li Hand die Harpa.
im Abschnitt P XV (kurz für TRP XV)
Ref.: Göbl 1662i; RIC V/1, 606 var. (hat Szepter); C. 44 var.
Selten, fast SS, Prägung etwas schwach
Anm.: Harpa = Scythe = Falx = Sichel

Zu dieser Münze:
Daß die dargestellte Figur Saturn darstellt, hat Eckhel bemerkt. Macrobius behauptet, daß Saturn mit der Sonne identisch sei und er meint auch, daß Saturn dasselbe war wie die Zeit. Euripides nennt Saturn den Sohn der Zeit. 'Und deshalb, weil die Ewigkeit aus einer fortwährenden Abfolge von Zeit besteht, so erkennen wir, daß Saturn sehr geeignet ist, Ewigkeit zu repräsentieren. Und in der Tat ist die Wahl eines solchen Typs in diesem Fall um so mehr geeignet, als er, von dem gesagt wird, er habe das Goldene Zeitalter in Latium etabliert, am besten fähig war, eine Goldene Ewigkeit zu garantieren' (Stevenson)

Mythologie:
Saturnus sei, von Jupiter vertrieben, als Flüchtling zu Schiff an der Küste Latiums gelandet. Das sei zur Regierungszeit des Ianus geschehen, und dieser habe ihn gastlich empfangen und aus Dank dafür, daß er ihn und seine Landsleute im Ackerbau unterwiesen habe, ihn zum Mitregenten angenommen. Währen Ianus seine Burg auf dem Ianiculus hatte, gründete Saturnus auf dem späteren Mons Capitolinus die nach ihm benannte Stadt Saturnia. Diese Zeit sei eine Zeit des einfachen, glücklichen Lebens gewesen, eines Goldenen Zeitalters, dessen die Römer als Saturnalia Regna gedenken. Diese bereits sehr ausgearbeitete Mythologie stammt aus der augusteischen Zeit.

Hintergrund:
Saturn ist ein uralter römischer Gott und hat ursprünglich nichts mit dem griechischen Kronos zu tun. Siehe hierzu den Artikel über Kronos im Mythologiethread: http://www.numismatikforum.de/ftopic11926-75.html Leider ist er bereits sehr früh mit diesem identifiziert worden, sodaß es schon in der Antike schwierig war, ihn von Kronos zu unterscheiden. Hier ist, was wir über ihn wissen:

Seine Herkunft war bereits in der Antike unklar. Diskutiert wird eine mittelmeerische Herkunft oder eine indogermanische. Er könnte aus Phrygien stammen, wo ein Gott Satra verehrt wurde, oder die Etrusker könnten ihn vermittelt haben, die einen Gott Satre kannten. Illyrien wird diskutiert, aber er könnte auch rein italisch sein (z.B. sabinisch oder sikulisch) oder griechisch durch etruskische Vermittlung. Kurz und gut: Nichts Genaues weiß man nicht!

Auch etymologisch gibt es Schwierigkeiten. Bei römischen Schriftstellern gibt es die Redensart ab satu est dictus. Demnach könnte er ein Zeitgott sein und der Name von saturare stammen. Dem widersprechen aber die Formen Saturnus oder Saeturnus, die gebildet sind wie Volturnus, Nocturnus oder Iuturna.

Von einer Saturnsage besitzen wir nur bruchstückhaft erhaltene Erzählungen, in denen sich griechisches und römisches mischt. Zunächst ist Saturn eine Gottheit (numen) des Ackerbaus und herrscht mit Lua vereinigt über das Capitolium, das früher mons Saturnius hieß. Es gab dort ein Saturni fanum in faucibus, Altar des Saturn, der in der Nähe am Fuß des Hügels erhalten war. Der sabinische Ackerbaugott hat vielleicht vom etruskischen Satre seinen Namen und den blutigen Charakter des Gottes der munera, sicher seine chthonische Herrschaft entliehen: Während seines Monats, des Dezembers, finden viele Feste der unterirdischen Gottheiten statt: Consualia, Saturnalia und Opalia.

Vom griechischen Kronos entlieh Saturn Aussehen und Tracht: das velatum caput, die Sichel in der Hand, den ritus Graecus. Seine Verbundenheit mit Kronos wurde immer enger - wahrscheinlich von den Griechen ausgehen - auf Grund der wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Ackerbauland Sizilien und unter dem Einfluß der orphischen und pythagoreischen Spekulationen (Kronos - Chronos). Saturn wurde der Herrscher der Saturnalia regna, der Gott des goldenen Zeitalters (auch dies eine eigentlich griechische Vorstellung; und die Griechen suchten die Inseln der Glückseligkeit immer im Westen) und bald ein literarischer Topos.

Unter dem Prinzipat, in Italien (außer Norditalien) und in den Provinzen (ausgenommen Africa) ist Saturn fast unbekannt. In den römischen Provinzen Nord-Afrikas war Saturn allerdings der Hauptgott. Aber dieser lateinische Name verbirgt einen berberischen 'Ammon', über den sich der punische Baal-Hammon gelagert hat. Die Kinderopfer (Molk) wurden unter römischem Einfluß durch Tieropfer als Substitut (Molchomor) ersetzt. Doch nach Tertullian setzten sie ihre grausamen Opfer im Verborgenen weiter fort. Ende des 2. und Anfang des 3.Jh. hatte der Kult des Saturn seine größte Verbreitung; bis heute sind etwa 3000 Votivstelen gefunden; die jüngste stammt aus dem Jahr 323.; aber noch zur Zeit des Augustinus blühte der Saturn-Kult.

Anmerkungen:
(1) Lua = Alt-römische Göttin, mit vollem Namen Lua Mater, Kultgenossin des Saturn und mit ihm zusammen in Gebetsformeln als Lua Saturni angerufen. Ihr wurden erbeutete Waffen verbrannt (z.B. die der Volsker durch C. Plautius, siehe Livius). Da dieser Brauch den Charakter einer Sühnezeremonie trägt, so haben wir in Lua eine feindliche Gottheit zu sehen, um deren Versöhnung man sich bemühen mußte. Ihr Name ist von luere, verderben, nicht zu trennen.
(2) munera (munera gladiatoria) = Gladiatorenspiele
(3) ritus Graecus = die griechische Art und der Weise, ein Opfer zu vollziehen, z.B. unverschleiert

Kunstgeschichte:
Mit dem Bau des Saturn-Tempels wurde bereits während der Königszeit begonnen, und in republikanischer Zeit im Jahre 498 v.Chr. – unmittelbar nach der Vertreibung der etruskischen Könige - wurde er eingeweiht. Aber bereits bevor der Saturn-Tempel erbaut wurde, gab es einen uralten Altar des Saturn am Fuße des Capitoliums. Saturn war bei den alten Römer einer der meistverehrten Götter. Daraus erklärt sich auch, dass ihm zu Ehren zuerst ein Tempel errichtet wurde. Damit ist er nach dem Tempel des Iuppiter Capitolinus eines der ältesten Heiligtümer des alten Roms. Heute stehen auf dem Forum noch die Reste der Säulenfront, die von einem Wiederaufbau nach dem Brand von 283 n.Chr. stammen. Im Vorbau des Tempels befand sich das Aerarium Saturni, der Aufbewahrungsort des Staatsschatzes, der Waffen, der Gesetzestafeln und der Senatsbeschlüsse. An der Ostseite des Tempelpodiums wurden die acta diurna, die öffentlichen Bekanntmachungen, angeschlagen.

Das hinzugefügte Bild zeigt diese Säulenfront auf dem Forum in Rom.

Quellen:
Livius, Ab urbe condita (online unter http://www.archive.org/details/titiliviaburbec00wlgoog )
Cicero, De Natura Deorum
Der Kleine Pauly
W.H.Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (online)
Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon
Stevenson, Dictionary of Roman Coins (online im Forum Ancient Coins)

Mit freundlichem Gruß
Dateianhänge
gallienus_606var.jpg
Saturntempel auf dem Forum.jpg
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Beitrag von Peter43 » Di 30.06.09 18:49

Herakles und der Kretische Stier

Ich freue mich, heute diese Münze zeigen zu können, auf die ich schon lange gewartet hatte. Ich weiß, ihr Erhaltungsgrad ist nicht hoch, aber besser erhaltene sind kaum erschwinglich.

Die Münze:
Moesia inferior, Nikopolis ad Istrum, Septimius Severus, 193-211
AE 28,
geprägt unter dem Statthalter Aurelius Gallus
Av.: .AVT.L.CEPT - CEVHR PER
Kopf, belorbeert, n.r.
Rv.: VP AV[R GALLOV NIKOPOLIT]WN / PROC ICTR.
darunter der Bogen
Der Kretische Stier mit erhobenen Vorderfüßen und Schwanz n.l. stürmend; Herakles,
nackt, neben ihm n.l. laufend, umfaßt mit beiden Händen seinen Kopf, um ihn nieder-
zuzwingen; auf dem Boden hinter seinem re Fuß die Keule.
Ref.: AMNG I/1, 1309; Varbanov (engl.) 2710; Voegtli Typ 4m
Selten, S+

Mythologie:
König Minos, der König von Kreta, hatte seinen Anspruch auf den Thron damit begründet, daß seine Herrschaft über Kreta gottgewollt sei. Um dies zu beweisen, erklärte er, daß jedes seiner Gebete erhört werde. Daraufhin bot Minos dem Poseidon an, ihm das nächste Tier zu opfern, das den Fluten des Meeres entstieg, da keines seiner eigenen Tiere für ein so hohes Opfer würdig genug sei. Da sandte ihm Poseidon einen ausnehmend stattlichen, weißen Stier. Minos jedoch, angetan von dessen Schönheit, versteckte ihn in seiner Herde, unterschlug ihn dem Gott und opferte diesem stattdessen eines seiner Tiere. Poseidon, erzürnt ob dieses Frevels, verfluchte Minos' Gemahlin Pasiphae und stürzte sie in unsterbliche Liebe zu dem Stier. Sie ließ sich von dem kunstfertigen Daidalos ein hölzernes Kuhgestell bauen und eine Kuhhaut darüberspannen, um dann in dieses Gestell zu kriechen und sich in diesem mit dem weißen Stier zu vereinigen. Aus dieser Vereinigung ging der Minotauros hervor, eine Gestalt mit menschlichem Körper und dem Kopf eines Stieres. Minos ließ das Tierwesen, das er eigentlich töten wollte (zeugte dieses doch auch vom Fehltritt seiner Gemahlin), auf Bitten seiner Tochter Ariadne am Leben und beauftragte den kunstsinnigen Daidalos, ihm ein Gefängnis zu bauen, das Labyrinth in Knossos, in das er den Minotaurus einsperrte.

Zudem wurde der kretische Stier von Poseidon mit Raserei geschlagen, wodurch er große Verwüstungen auf Kreta anrichtete. Besonders betroffen war das Gebiet um den Fluss Tethris.

Als siebte von Eurystheus gestellte Aufgabe sollte nun Herakles den Stier bändigen und diesen dem Eurystheus bringen. Nach dem Kampf gegen die Stymphalischen Vögel war dies ein eher leichtes Unterfangen. Herakles zog also gegen das Tier aus, landete auf Kreta und fragte Minos, ob dieser etwas gegen die Mitnahme des Tieres einzuwenden habe. Minos verneinte für den Fall, dass Herakles mit dem Stier zurechtkäme. Herakles gelang es schnell, daß Tier zu bändigen, obwohl es feurigen Atem schnaubte. Er fesselte es und brachte es zu Eurystheus. Dieser wollte den Stier sogleich der Hera opfern, aber da die Göttin den Herakles haßte, verweigerte sie das Opfer, weil es nur den Ruhm des Helden vermehren würde. So wurde der Stier freigelassen

Daraufhin durchirrte der Stier ganz Sparta und Arkadien, überquerte schließlich den Isthmos von Korinth und und gelangte nach Marathon, wo er beträchtlichen Schaden anrichtete und viele Menschen tötete. Deshalb wurde er auch vielmals als 'marathonischer Stier' bezeichnet. Theseus, der Sohn des athenischen Königs Aigeos, wurde von ihm gegen den Stier ausgesandt, bezwang diesen schließlich und führte ihn nach Athen, wo ihn Aigeos dem Apollon opferte.

Androgeos, ein Sohn des Minos und der Pasiphae, hielt sich während der Jagd auf den Stier gerade in der Gegend auf, wurde dabei aber hinterrücks ermordet. Deswegen begann Minos einen Krieg gegen Athen zu führen. Da er aber Athen nicht bezwingen konnte, erbat er Hilfe von seinem Vater Zeus, die dieser gewährte. Er schickte die Pest, und Athen ergab sich. Doch um Minos zu besänftigen, mußte Athen nun jeweils alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tributzahlung nach Kreta schicken, die von Minos zu Minotaurus ins Labyrinth geschickt und so diesem geopfert wurden.

Doch damit beginnt eine andere Geschichte.

Anmerkung:
Es gibt auch die Meinung, daß der Kretische Stier nicht der Stier des Poseidons gewesen ist, sondern der Stier, der Europa von Phönikien nach Kreta gebracht hatte.

Hintergrund:
Ich führe einmal an, was Ranke-Graves über den Kretischen Stier schreibt. Prinzipiell mißtraue ich aber seinen Interpretationen, weil er mir zu sehr auf das Matriarchat und die Heilige Hochzeit (hieros gamos) fixiert ist. Also:
Der Kampf mit dem Bullen oder einem Mann in Stierverkleidung - eine der rituellen Aufgaben, die dem Anwärter auf das Königtum gestellt wurden - erscheint auch in der Geschichte von Theseus und dem Minotauros und in der Geschichte von Jason und den feuerspeienden Stieren des Aietes. Als die Unsterblichkeit, die mit der Heiligen Königswürde verbunden war, endlich jedem Eingeweihten der Dionysischen Mysterien versprochen wurde, wurde die Gefangennahme eines Stieres und seine Darbringung dem Dionysos Plutodotes ('Spender von Reichtum') ein allgemeiner Ritus sowohl in Arkadien (Pausan.VIII, 19, 2) als auch in Lydien (Strabon XIV, 1, 44), wo Dionysos den Titel Zeus innehatte. Seine wichtigste Theophanie war die des Stieres, aber er erschien auch in der Gestalt eines Löwen oder einer Schlange. Berührung mit den Hörnern des Stieres befähigte den Heiligen König, das Land im Namen der Mondgöttin zu befruchten, indem er Regen machte. Die magische Erklärung dafür ist, daß das Brüllen eines Stieres Gewitter ankündigte, die durch das Schwingen von rhombi oder Stierschreien zum Ausbruch veranlaßt werden sollten. Auch Fackeln wurden geworfen, um den Blitz zu versinnbildlichen; sie stellten den feurigen Atem des Stiers dar.

Quellen:
Der Kleine Pauly
Benjamin Hederich, Gründliches Mythologisches Lexikon
Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie
Apollodor, Bibliothek, II/94-95, III/9ff, III/209, IV/5-6

Hinzugefügt habe ich
(1) das Bild 'Herakles bindet den Kretischen Stier', ein schwarzfiguriges attisches Vasenbild, ca. 510 v.Chr., aus Vulci, heute in der Staatlichen Antikensammlung in München.
(2) das Bild des Mosaiks 'Die Zwölf Arbeiten des Hercules' aus Lliria (Valencia/Spanien) aus der 1. Hälfte des 3.Jh. von einem unbekannten Künstler. Hier ähnelt die Darstellung des neben dem Stier herlaufenden Herakles der Darstellung auf der Münze.

Mit freundlichem Gruß
Dateianhänge
nikopolis_sept_severus_Cretan_Bull.jpg
800px-Herakles_bull_Staatliche_Antikensammlungen_1583.jpg
Kretischer Stier Madrid.jpg
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Beitrag von Peter43 » Fr 03.07.09 17:34

Artemis Perasia, die alte Kubaba

Kleinasien ist voll von Göttinnen und Göttern. Hier möchte ich eine uralte Göttin vorstellen, die in griechisch-römischer Zeit unter dem Namen Artemis Perasia bekannt war.

Münzen:

Kilikien, Hieropolis-Kastabala, 2.-1. Jh. v.Chr..
AE 21, 7g
Av.: Kopf der Stadtgöttin (Tyche), mit Mauerkrone, n.r.; dahinter Monogramm
Rv.: re. [ I]EROPOLITW[N], von oben n. unten
li. [TW]N PROC TW / [P]YRAM[W], von oben n. unten
Artemis Perasia, in langer Kleidung und mit Kalathos, Szepter im li Arm, n.l.
sitzend auf Thron mit hoher Lehne; unter dem Sitz Adler n.l. stehend
Ref.: SNG Levante 1564; Lindgren 1507; SNG Paris 2208
SS, dunkelgrüne Patina

Kilikien, Hieropolis-Kastabala, 2.-3.Jh. n.Chr. (?)
AE 26
Av.: IEROPOLI - TWN
drapierte Büste der Stadtgöttin (Tyche), verschleiert und mit Mauerkrone n.r.
Rv.: [TWN PROC TW PYRAMW]
Büste der Artemis Perasia, drapiert, mit Mauerkrone und Schleier, n.r.; davor
brennende Fackel
Ref.: nicht in Isegrim; Vs. RPC I, 4064; unpubliziert?
sehr selten, fast SS, dunkelgrüne Patina

Zur Ikonographie:
Auf Münzen erscheint Perasia in 2 unterschiedlichen Versionen:
1. Als vollständige Figur mit Kalathos auf einem Thron sitzend, darunter Adler,
dahinter oft eine Pinie
2. Als Büste, verschleiert und mit Mauerkrone, häufig mit einer hohen, konischen
Kopfbedeckung, davor eine Fackel.
Wegen der Fackel kann sie leicht mit Demeter oder auch Hekate (so HN)
verwechselt werden. Aber sie unterscheidet sich von ihr durch die Kopfbedeckung.
Diese beiden Göttinnen kommen nämlich mit Mauerkrone nicht vor.

Mythologie:
Der lokale Mythos führt die Gründung von Kastabala auf Orestes und Pylades zurück. Nachdem Orestes nach dem Tod seiner Schwester Iphigenie mit der Statue der Artemis Tauropolos die Krim verlassen hatte, war er ins pontische Komana gekommen und hatte der taurischen Artemis dort einen Tempel erbaut. Um aber den widerstreitenden Interessen beider Komana gerecht zu werden, erzählt man, daß Orestes, nachdem er die Krim verlassen hatte, erkrankt sei, und daß das Orakel ihm antwortete, er würde erst genesen, wenn er der Artemis einen Tempel errichtete, der dem von Tauris gleiche. Da die Krankheit aber nicht weichen wollte, pilgerte er weiter zum taurischen Komana, erbaute ihr einen Tempel, und das Orakel ging in Erfüllung (Prokopios).

Sonderbar ist nun, daß nicht nur beide Komana das Andenken des Orestes für sich beanspruchen, sondern ebenfalls Kastabala. Dort sei der Tempel der Artemis Perasia, gedeutet als 'überseeische Artemis', von Orestes errichtet worden. Man erzählt, daß Thoas, der König der Taurier, die Flüchtigen bis zum Fuße des Taurusgebirges verfolgt habe, und dann in der Stadt Tyana gestorben sei, die ursprünglich nach ihm Thoana geheißen habe (Strabo).

Dies alles aber gehört zur üblichen Methode der Griechen, ihre Erwerbungen immer mythologisch zu untermauern, wie wir es schon oft in diesem Thread gelesen haben.

Name:
Perasia ist eine im kilikischen Hierapolis-Kastabala verehrte, der Ma verwandte, und daher mit Artemis identifizierte kleinasiatische Göttin, deren Priesterinnen in kultischer Ekstase unversehrt über glühende Kohlen zu schreiten vermochten (Strabo 12, 537).
Die sich darin andeutende Berührung mit den Lazerationsriten im Dienst der Kybele erhält Bestätigung durch die Namensformel 'Kubaba zi b Kastabalaj' (die Kubaba in Kastabala) auf der aramäischen Inschrift von Bahadirli in Ost-Kilikien, wobei die Identität von Kubaba und Kybele durch die lydische Weiheformel kvnaval (der Kubaba) auf der jüngst entdeckten Krugscherbe von Sardes weiter abgesichert wird.
Der Name ist bereits bekannt als Pirvashua in einer aramäischen Inschrift aus der späten hethitischen Periode. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um einen Grenzstein, auf dem sie als Herrscherin über Kastabala bezeichnet wird. Eine Ableitung von Persia als 'persische Artemis', oder abgeleitet von dia ton perathen als 'überseeische Artemis', wie man früher glaubte, ist deshalb obsolet.

Geschichte:
Wir wissen, daß Hieropolis-Kastabala ein bedeutendes heiliges Zentrum war. Nach Strabon aus Amasia tanzten sich die Priesterinnen im Tempel der Artemis Perasia in Kastabala in einer langen religiösen Zeremonie in Verzückung, bis sie auf der heißen Asche eines Feuers weitertanzen konnten, und rannten dann auf dem Höhenpunkt ihrer Ekstase mit der Fackel in der Hand aus dem Tempel zu den Ufern des Pyramos und auf die bewaldeten Hügel. Auch in der hellenistischen und in der römischen Kaiserzeit wurden hier panhellenistische Wettrennen zur Ehre der Perasia veranstaltet.

Artemis Perasia, die Göttin von Kastabala, ist keine andere als Kubaba, die uralte anatolischenMuttergöttin, die bei den Griechen Kybele heißt. Offensichtlich ist ihr Kult viel älter, als man vor kurzem glaubte. Zum erstenmal stößt man auf ihren Namen in den Götterlisten der assyrischen Archive von Kanesch (Kültepe), 1800 v.Chr., und in den Königsarchiven von Hattusa (Bogazköy), der Hauptstadt der Hethiter (1500-2000 v.Chr.).

Nach dem Zerfall des Hethiterreiches ab 1200 v.Chr., wurde Karkemisch zur Hauptstadt der Hethiter. Kubaba wurde zu ihrer Muttergöttin und war als 'Königin von Karkemisch' bekannt. In dieser Zeit breitete sich der Kubaba-Kult in Kleinasien aus, was auch das Relief von Domuztepe zeigt. Die Phrygier übernahmen ihn und wir finden ihn in Pessinos und Sardes. 204 v.Chr. kam Kubaba/Kybele nach Rom und eine Statue wurde auf dem Palatin aufgestellt. In der griechisch-römischen Zeit ist sie unter dem Namen Artemis Perasia bekannt geworden. So ist ihre Darstellung natürlich hellenistisch geprägt.

Einige Anmerkungen zum Feuerlaufen:
Beim Feuerlaufen legen die Teilnehmer barfuß Strecken von mehreren Metern über glühende Kohlen zurück, ohne sich zu verbrennen. In traditionellen Kulturen geschieht dies meist im Rahmen von Ritualen. Das Feuer soll dabei eine Verbindung mit dem Göttlichen schaffen. Ferner sind Feuerläufe Bestandteil von Unverletzlichkeitsriten vieler Kulturen. Die moderne westliche Gesellschaft kennt den Feuerlauf als Teil von Motivations- und Selbsterfahrungs-Seminaren. Viele Seminarleiter behaupten, es gebe keine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen Feuerlauf. Es bedarf aber weder psychophysischer Ausnahmezustände noch einer Verknüpfung mit religiösen Vorstellungen, um einen Gang über glühende Kohlen unverletzt zu absolvieren.
Temperaturmessungen ergaben für glühende Kohlen lediglich Werte zwischen 240°C und etwa 440°C. Temperaturen von 1000°C, von denen in einigen Feuerlaufseminaren die Rede ist, werden bei weitem nicht erreicht. Auch die Fußsohlen werden nur moderat erhitzt, wenn man gewisse Bedingungen (s.u.) beachtet. In Experimenten konnten gezeigt werden, dass sich die Fußsohlen bei Feuerlauf höchstens auf 200°C erhitzen. Die Durchschnittstemperatur in der Hornhaut lag zwischen 47°C und 100°C.
Aus folgenden Gründen ist die Wahrscheinlichkeit, sich beim Feuerlauf zu verletzen, sehr gering:
- Holz und Kohle sind schlechte Wärmeleiter. Ein Gang über eine ebenso heiße
Eisenplatte ist nicht möglich, da Metall ein guter Wärmeleiter ist.
- Zudem wirkt die Asche, die die Glut umhüllt, als Wärmeisolator.
- Der Fuß berührt das Kohlebett bei jedem Schritt nur für kurze Zeit, normalerweise
weniger als eine halbe Sekunde lang. Dieser kurze Zeitraum reicht nicht aus, um die
Fußsohlen bis zur Verbrennung zu erhitzen.
- Die unebene Oberfläche der Holzkohle bietet nur eine kleine Kontaktfläche. Dies
verlangsamt die Wärmeübertragung.
- Der Blutkreislauf gewährleistet einen Abtransport der Wärme von den Fußsohlen.
- Die Hornhautschicht an den Füßen fungiert als Wärmeschutz.
Weiterhin spielt die Angst vor dem Feuer eine Rolle. Wer erwartet, dass der Gang übers Glutbett gefährlich ist, wird minimale Verbrennungen als schmerzhafter empfinden als jemand, der keine Angst hat.
(Inge Hüsgen, Wolfgang Hahn, Dr. Christoph Bördlein, in 'Skeptiker 3/4 2007, S.92-102)

Hinzugefügt habe ich das Bild einer Reliefdarstellung der Kubaba aus Basalt, Karkemisch, späthethitisch, 850-750 v.Chr. Sie hält in der re Hand einen Granatapfel und in der li Hand einen Spiegel. Heute im Museum of Anatolian Civilization in Ankara/Türkei

Quellen:
- Strabo
- Roscher, Ausführliches Lexikon der der griechischen und römischen Mythologie
(on-line)
- Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon
- Der Kleine Pauly
- Theodore Reinach, Mithradates Eupator (on-line)
- Der Skeptiker (on-line)
- Wikipedia
- Dupont-Sommer/Robert, La Deesse de Hierapolis-Kastabala
- Veröffentlichungen der türkischen Regierung (on-line)

Mit freundlichem Gruß
Dateianhänge
hierapolis_kastabala_SNGlevante1564.jpg
hieropolis_kastabala_RPC464(av)_unbekannt.jpg
Kubaba_Museum_of_Anatolian_Civilizations.jpg
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Beitrag von Peter43 » Do 16.07.09 00:15

An alle Leser dieses Threads!

Die Münzen, die ich in diesem Thread einstelle, sind alles meine eigenen. Deshalb könnt ihr ruhig auch Kommentare zu diesen Münzen schreiben. Insbesondere dann, wenn ihr neue, mir unbekannte Referenzen habt.

Weiter bin ich auch angewiesen auf die Korrektur von Fehlern. Ich selbst bin kein Fachmann, sondern erarbeite mir jeden Artikel oft sehr mühevoll. Allein das Beschaffen von notwendiger Literatur ist aufwendig. Deshalb gibt es mit Sicherheit auch Aussagen, die zweifelhaft sind. Schreibt mir, wenn euch das auffällt.

Es wäre auch schön, wenn ihr mir mitteilen würdet, über welche Themen ihr noch etwas lesen wollt. Bisher habe ich die Themen ja eher nach meinen eigenen Interessen ausgesucht, und natürlich nach den Münzen, die ich in meiner Sammlung zur Verfügung habe.

Es wäre also begrüßenswert, wenn ich in dieser Richtung etwas hören würde. Bisher habe ich das Gefühl, immer etwas im leeren Raum zu schreiben.

Mit freundlichem Gruß
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Beitrag von emieg1 » Fr 17.07.09 18:39

Ich versuche mich jetzt mal an einer "Antwort"...

Lieber Jochen, auch wenn ich hier noch nicht so lange "dabei" bin, verfolge ich die postings mit grösstem Interesse.

Die mühevolle Erarbeitung deiner Beiträge kann man nur erahnen!

Ich denke, die meisten hier zollen deinen Beiträgen höchsten Respekt - mich eingeschlossen, aber fühlen sich schlichtweg ausserstande, da mitreden zu können.

Der "leere" Raum, in den du hier schreibst, ist daher nicht wirklich leer... je weniger "Echo" du in diesem thread findest, desto mehr darst du davon ausgehen, dass deine Gedanken zu der entsprechenden Münze bis in die letzten Tiefen "zuendegedacht" sind.

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Beitrag von Peter43 » So 26.07.09 20:51

Apollo Philesios und der bewegliche Hirsch des Kanachos

Vorgeschichte zu diesem Artikel: Ich habe bereits öfter empfohlen, euch eure Münzen mal mit der Lupe genauer und mit wachem Auge zu betrachten. Was ihr da an interessanten Details entdecken könnt, ist oft überwältigend. Genau dies ist mir mit der zweiten der hier vorgestellten Münzen passiert, die ich schon länger in meiner Sammlung habe. Als ich daraufhin bei meinen Recherchen die betreffende Literatur erneut durchging, stellte ich fest, daß Tahberer meine alte Münze anders interpretiert, als ich es damals getan hatte. Inzwischen habe ich seine Meinung adoptiert. Es hat sich dabei zwar leider herausgestellt, daß ich diese Münze bisher falsch interpretiert habe. Das bedeutet aber nun nicht gleich, daß der zugehörige Artikel von damals falsch ist, sondern nur, daß die betreffende Münze nicht die dort dargelegte Mythologie belegt. Ich habe deshalb die Bilder in den zugehörigen Threads bereits ausgetauscht.

Das Ergebnis meiner Recherchen hat zu diesem neuen Beitrag geführt, auf den ich ehrlich gesagt etwas stolz bin. Ich habe hier alles kompiliert, was ich im
Zusammenhang mit dieser Münze herausbekommen habe. Ich hoffe, daß ihr ebensoviel Vergnügen beim Lesen des Artikels habt, wie ich beim Schreiben!

Die Münzen:

Ionien, Milet, Nero, 54-68
AE - AE 18, 2.44g
geprägt unter dem Magistrat Louros
Av.: CEBA - CTOC (A und T auf dem Kopf stehend)
Kopf, belorbeert, n.r.
Rev.: EPI LO - YPOY
Kultstatue des Apollo Didymeus, nackt, n.r. stehend, hält in der li Hand den
Bogen und in der vorgestreckten re Hand einen liegenden Hirschen, der den
Kopf zum Gott zurückwendet.
Ref.: BMC 198, 149; RPC comments p.449, 5a
gut S/fast SS, dunkelgrüne Patina

Hier die Münze, die eigentlich den Anstoß zu diesem Artikel gab:
Kilikien, Tarsos, Maximinus I., 235-238
AE - AE 30, 21.49g
Av.: AVT.K.G.IOV.[OVH.MAZIMEI]NOC / P - P
Büste, drapiert und cürassiert, mit Strahlenkrone, n.r.
Rv.: TARCOVC THC MHTROPOLE[WC]
Apollo, frontal stehend, Kopf n.l., hält in der li Hand den Bogen und in der
gesenkten Rechten einen Hirsch(!) an den Vorderläufen.
im li Feld untereinander A / M / K
im re Feld oben G, unten B
Ref.: SNG Levante 1099 (eher nicht!)
sehr selten, gutes S, braun-grüne Patina

Entscheidend sind die Details des Tiers, das Apollo an den Vorderfüßen hochhält. Es ist eben offensichtlich kein Hund, sondern ein Hirsch! In der Vergrößerung erkennt man deutlich die typische Kopfform mit dem langgestreckten Gesicht der Cervidae und das - leider etwas schlechter erhaltene - Geweih. Damit reiht sich diese Münze nicht in die aus Tarsos bekannten Darstellungen mit den Hunden ein, sondern es handelt sich um etwas anderes: Es ist Apollo Philesios, nach dem Standort als Apollo Didymeus bekannt!

Die Abbildung auf der milesischen Münze entspricht natürlich der Beschreibung des Originals genauer, weil Apollo hier den Hirsch in seiner Hand hält. Allerdings sind aus Delphi 2 Weihgeschenke bekannt, bei denen Apollo einen Hirsch ebenfalls an den Vorderläufen gepackt hat. Insgesamt gesehen gehören diese Münzabbildungen zu den wenigen Überlieferungen, nach denen wir uns ein Bild der berühmten Statue machen können. Zu ihnen gehören allerdings nicht die milesischen Münzen, die auf einer Seite den Kopf des Apollo zeigen und auf der anderen einen Löwen. Bei ihm handelt es sich um Apollo Delphinios, den Stadtgott von Milet.

Mythologie:
Die Mythologie des Philesios geht zurück auf den hübschen Hirten Branchos.
Branchos, ein im Griechischen ungewöhnlicher Name, heißt soviel wie 'Halsweh, Heiserkeit'. Der Name wird folgendermaßen erklärt: Als die Mutter des Branchos mit ihm schwanger war, hatte sie einen Traum, in dem die Sonne durch ihren Mund ein- und dann aus ihrem Leib wieder austrat. Als das Kind geboren war, nannte sie es Branchos, weil die Sonne durch ihre Kehle in sie eingedrungen war. Der Ursprung dieser Mythe ist sicherlich vorgriechisch und soll wohl Branchos und seine spätere Weissagungskraft auf den Sonnengott zurückführen, bzw. überhaupt eine Beziehung zum Sonnengott herstellen. Die etymologische Erklärung von Branchos scheint griechisch zu sein, ist aber eine etwas verunglückte Ableitung, weil Branchos ja nicht Hals sondern eben Halsweh heißt!

Eine wahrscheinlich spätere, jetzt typisch griechische Mythe erzählt, daß einstmals der Hirt Branchos, der Sohn des Smikros aus Milet, seine Herde bei Didyma nahe Milet hütete. Dort habe Apollo ihn erblickte und sich auf der Stelle in ihn verliebt. Der Gott küßte ihn und schenkte ihm eine Krone, einen Lorbeerstab und die Gabe der Weissagung. Diese Geschichte erklärt den Kultnamen Philesios, den Apollo in Didyma hatte, und der soviel heißt wie 'der Liebende, der Küssende' (von philein = lieben, küssen).

Daraufhin stiftete Branchos das Didymäische Orakel, das weithin berühmt wurde. Es wird erzählt, daß Apollo einmal mit den Milesiern in Streit geriet und ihnen zur Strafe eine Seuche schickte. Branchos aber rettete die Milesier. Er besprengte die Menge mit feuchten Lorbeerzweigen und sang dazu einen Hymnos auf Apollo (s. Apollodor von Kerkyra). Die Knaben aber wiederholten die Zauberverse:
(1) ΚΝΑΞΖΒΙ ΧΘΥΠΤΗΣ ΦΛΕΓΜΟ ΔΡΩΨ
(2) ΒΕΔΥ ΖΑΨ ΧΘΩΜ ΠΛΗΚΤΡΟΝ ΣΦΙΓΞ
Diese Zaubersprüche soll Branchos erfunden haben. Sie kommen auf zahlreichen Papyri vor. Eigentlich sind es Nonsense-Verse, die aber alle 24 Buchstaben des milesischen Alphabets enthalten. Es gibt daher auch die Auffassung, daß Branchos durch diese Zauberformeln den Milesiern das Schreiben beigebracht habe, da Zaubern und Buchstabieren semantisch eng verbunden sind. Vgl. dazu das englische 'spell', das gleichzeitig 'buchstabieren' und 'Zauber' bedeutet, verwandt übrigens mit dem deutschen 'Spiel'.
Branchos wurde zum Begründer eines mächtigen Geschlechts von Priesterherrschern, die nach ihm Branchidai hießen. Ihnen hatte er die Gabe der Weissagung vererbt.

Geschichte:
Über die Geburt des Apollo haben wir bereits im Artikel 'Leto - die Mutter der Zwillinge Apollo und Artemis' gesprochen. Während Delos die Geburt des Apollo für sich beanspruchte, Delphi seine ersten Taten, konnte Didyma mit dem Zeugungsmythos etwas gleichwertiges vorweisen.

Branchos wurde also zum Begründer des Orakels von Didyma und des priesterlichen Herrschergeschlechts der Branchiden. Pausanias schreibt, das Heiligtum von Didyma
habe schon vor der Besiedlung durch die Ionier bestanden. Dazu paßt gut, daß sowohl der Name 'Branchos' als auch 'Didyma' aus dem Karischen stammen, einer Sprache, die dem Luwischen verwandt ist, welches wiederum eng mit dem Hethitischen verbunden war, also vorgriechisch sind. Zwei Stiftungen, des Pharaohs Necho (das königliche Gewand, das er bei der Schlacht von Megiddo bei seinem Sieg über Josiah getragen hatte) und des Lyderkönigs Kroisos zu Beginn des 6. Jh. v.Chr., zeugen von der Bedeutung dieses Heiligtums. Die ältesten Reste des Tempels stammen aus dem 7.Jh. Wahrscheinlich war er um eine Quelle herum gebaut worden. Eine heilige Straße verband Branchidai, wie Didyma auch genannt wurde (so bei Herodot), mit dem Heiligtum des Apollo Delphinios in Milet. Das bedeutendste Kunstwerk in Didyma aber war die Bronzestatue des stehenden Apollo Philesios des Kanachos aus dem 5.Jh. v.Chr., wahrscheinlich ein Geschenk der Milesier an Didyma und dann eher eine Votivgabe als ein eigentliches Kultbild. 494 wurden Didyma und Milet von den Persern unter Xerxes zerstört und die bronzene Statue des Apollo entführt, wahrscheinlich nach Ekbatana. Strabon berichtet, daß die Branchiden dabei Verrat begangen und die riesigen Tempelschätze den Persern ausgeliefert hätten. Sie selbst seien den Persern - aus Angst vor der Rache der Mileter - in den Osten gefolgt und wurden von ihnen nach Sogdania an den Oxos versetzt. Man muß dazu wissen, daß ein großer Teil der Führungsschicht traditionell perserfreundlich war.

Nachdem die Diadochen das Reich Alexanders unter sich aufgeteilt hatten, kamen die Schätze in Ekbatana in den Besitz der Seleukiden. Seleukos Nikator gab die Statue des Apollo um 300 den Milesiern zurück. So kam sie nach fast 200 Jahren nach Didyma zurück. Dort wird sie Pausanias noch gesehen haben. Wahrscheinlich ging sie dann durch den Raubzug der Goten im 3. Jh. n.Chr. verloren.

Das Massaker an den Branchiden:
Als Alexander der Große auf seinem Eroberungszug 327 nach Baktrien gelangte und Sogdania eroberte, ließ er es bis auf die Grundmauern zerstören und nicht nur die Abkömmlinge der Branchiden töten, sondern alle Einwohner samt Frauen und Kindern, angeblich weil er die Gotteslästerung und den Verrat ihrer Vorfahren bestrafen wollte. Die Tempelschätze hätten nämlich ihm gehört als einem Sohn des Sonnengottes (nach Kallisthenes, der wohl Augenzeuge war). Eine andere Hypothese sagt, es seien milesische Generäle, z.B. Demodamas, gewesen, die ihn zu diesem Massaker gedrängt hätten, weil sie befürchteten, daß die Branchiden nach ihrer Rückkehr die alten Rechte ihrer Vorfahren für das Orakel wieder für sich beanspruchen würden.

Dies geschah fast 150 Jahre nach den Vorgängen in Didyma! Aber so wie Schiller über Wallenstein im Prolog schreibt: "Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt / Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte", genauso schwankt die Ansicht, die man sich über Alexander macht zwischen jugendlichem Held und grausamem Tyrann. Das Massaker an den Branchiden jedenfalls gehört zu seinen widerlichsten Taten. Parke (siehe Quellen) meint, es sei ein Zeichen für den Zusammenbruch des moralischen Zwecks gewesen, der hinter diesem Feldzug stand. Von einer Verteidigung der griechischen Zivilisation sei er zur Absicht der Weltherrschaft verkommen. Und der Grund für diesen Zusammenbruch sei der überwältigende Erfolg und das Erreichen der höchsten denkbaren Ziele gewesen.

Unter Alexander dem Großen 331 war das Orakel - jetzt unter milesischer Verwaltung - wieder eingerichtet und ein neuer Tempel um die wieder sprudelnde heilige Quelle erbaut worden, der dann insbesondere unter den Seleukiden prachtvoll ausgeschmückt wurde. Selbst die Plünderung durch die Galater 277/6 konnte den weiteren Aufstieg des Heiligtums nur kurz verzögern. Bei seinem Höhepunkt in der römischen Kaiserzeit war der Apollotempel in Didyma der größte Tempel der antiken Welt. Er war so groß, daß er niemals ein Dach bekommen hat. Die römischen Kaiser bemühten sich sehr um ihn, insbesondere Caligula, Trajan und Hadrian. So war z.B. Trajan 100/101 prophetes und ließ die Heilige Straße nach Milet ausbauen und pflastern. Bereits um 80 hatte ihm nach Dio von Prusas das Orakel von Didyma die künftige Herrschaft vorhergesagt. Erst die Christen machten dem Tempel den Garaus. Er war aber so groß, daß noch heute seine Fundamente erhalten sind.

Hinzugefügt habe ich
(1) ein Bild des erwähnten Kanachos-Reliefs vom Theater in Milet. Es zeigt Apollo Philesios mit dem Hirsch in der ausgestreckten Hand, begleitet von 2 Fackelträgern. Es wurde 1903 gefunden und befindet sich heute im Pergamonmuseum auf der Museumsinsel in Berlin. Die Fackelträger können später hinzugefügt worden sein.
(2) ein Bild des Apollotempels in Didyma, wie man ihn heute sehen kann. Betrachtet man die Besucher auf der Treppe, dann erhält man eine Vorstellung von den riesigen Dimensionen dieses Tempels.

(wird fortgesetzt)
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Beitrag von Peter43 » So 26.07.09 20:58

(Fortsetzung)

Kunstgeschichte:
(a) Der Künstler
Kanachos aus Sikyon, der Bruder des Aristokles, war ein spätarchaischer Bildhauer um 500 v.Chr. Er schuf die eherne Statue des Apollo Philesios in Didyma (Plin. nat. 34, 75), von der es noch Nachklänge in Reliefs, auf Münzen und Gemmen gibt, den Apollo Ismenios in Theben (aus Zedernholz, Paus. 9, 10, 2), das Sitzbild der Aphrodite in Sikyon (aus Gold und Elfenbein, Paus. 2, 10, 5) und anderes (Plin. nat. 34, 75), von denen wir keine Anschauung mehr haben. Die Verwendung so unterschiedlicher Materalien zeigt seine Kunstfertigkeit und die geographische Verbreitung seiner Werke bezeugt seinen Ruhm und seine Bedeutung.

(b) Der Apollo von Didyma
Die berühmte Statue des Apollo Philesios kennen wir leider nur aus Beschreibungen und von Bildern auf Münzen, Gemmen, von Reliefs und einigen unvollständigen Kopien. Am ausführlichsten ist die Beschreibung bei Plinius (NH 34, 75): "Kanachos verfertigte aus aiginetischer Bronze einen nackten Apollo, der 'der Liebenswürdige' genannt wird und sich im Tempel zu Didyma befindet, zusammen mit einem Hirsch, der so auf seinen Fußsohlen schwebt, daß man einen Faden unter seinen Füßen durchziehen kann, weil sich Ferse und Zehen durch wechselseitiges Fassen am Boden festhalten, da in beiden Teilen eine bewegliche Spitze derart angebracht ist, daß sie beim Zurückschwingen wechselseitig wieder zurückspringt." Die Statue war also nicht nur selbst bedeutend, sondern gerade diese Mechanik muß auf den antiken Betrachter einen tiefen Eindruck gemacht haben, erschien der Hirsch doch wie lebendig. Ob der Hirsch tatsächlich wie auf dem Berliner Relief auf der Hand nach vorne stand, aber den Kopf zum Gott gewendet hatte, wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal genau, ob der Hirsch gestanden oder gelegen hat. Im Allgemeinen wird er angesehen als ein Zeichen der engen Verbundenheit Apollos mit seiner Zwillingsschwester Artemis oder als Hinweis auf hethitische Vorstellungen von einem 'Schutzgott der Wildflur'.

(c) Zwischen Spät-Archaik und Früh-Klassik
Cicero (Brut. 18, 70) nennt Kanachos in einer Reihe mit Kalamis, Myron und Polyklet. Er erwähnt dabei eine Skala von Härtegraden, die er wohl einer hellenistischen Quelle entlehnt hat, wobei die archaischen Kunstwerke am 'härtesten' gewesen sind. In der Entwicklung der griechischen Kunst zur Naturwahrheit (veritas) und zur Schönheit (pulchrum), um dann mit Polyklet die Vollkommenheit zu erreichen, hätte er freilich nur auf der 1.Stufe gestanden. Dieses Urteil ist inzwischen revidiert worden. Kanachos stand am Ende der Spät-Archaik bereits mit einem Bein in der neuen Zeit, der Früh-Klassik. Das Berliner Relief, das sich einst im Theater von Milet befand, zeigt, daß Apollo nicht mehr - wie archaisch üblich - mit durchgedrückten Knien frontal steht, sondern sein re Bein leicht angewinkelt hat. "Allein das Wagnis des Kontraposts bedeutet einen qualitativen Sprung, da er das äußere Kennzeichen ist von einer grundsätzlich neuen Auffassung von der Lebendigkeit und Selbstbestimmung des Menschen." (Strocka). Es war noch kein Kontrapost, aber er befand sich auf dem Wege dorthin. Und daß eine bewegliche Hirschfigur nicht mehr archaisch ist, sollte offensichtlich sein. Die glaubwürdigsten Kopien sind wohl für den Körper der Apollo vom Forum Romanum, der 1900 an der Juturnaquelle gefunden wurde, was gut zu Didyma als ursprünglichem Quellheiligtum paßt, und für den Kopf der Apollo Townley im Britischen Museum. Beide zeigen einen Stil, der spätarchaische Züge mit denen des Strengen Stils (Winkelmann) vereint, und somit bereits Anfänge des Klassischen in sich trägt.

(d) Der bewegliche Hirsch: Einige Anmerkungen zur möglichen Technik
Schwerdhöfer versucht eine Rekonstruktion der Mechanik des berühmten beweglichen Hirsches. Dies wurde bereits früher versucht, z.B. 1880 von Petersen, 1904 von Schmidt und 1991 von Schürmann. Alle diese Versuche waren nicht befriedigend und zuletzt wurde bemerkt: 'Über die Art dieses Mechanismus ist viel gerätselt worden; aufzuklären wird diese Frage wohl nie sein.' (B.K.Weis)
Umso interessanter, daß wir hier einen neuen Versuch haben, der zum erstenmal die Methode der Konstruktionssystematik benutzt, die in den letzte 60 Jahren als eigene Ingenieurswissenschaft entwickelt wurde.
Hier die Skizze des Gedankenganges, der sich in 5 Schritten vollzieht:
(1) Auswertung der antiken Quellen zur Ermittlung des Grundprinzips
Nach der Beschreibung des Plinius geht er von einem stehenden Hirsch aus. Dessen Beschreibung und die Tatsache, daß der Hirsch nach über 600 Jahren, Verschleppung und Wiederaufstellung immer noch funktionsfähig war, spricht für eine robuste Technik und damit für einen einteiligen Hirsch ohne innere Mechanik.
(2) Bestimmung des Grundprinzips des zu rekonstruierenden Geräts
Der Hirsch wird über einen Mechanismus so bewegt, daß er wechselseitig seine Hinter- und Vorderläufe anheben und beim Aufsetzen der Hufe zurückprallen kann.
(3) Formulierung der Teilfunktionen und Suche nach Lösungs- bzw. Bauelemten zum Erfüllen der Teilfunktionen
Es werden wichtige Begriffe festgelegt wie Drehpunkt, Lager und Schwerpunkt. Als Teilfunktionen sind erforderlich Schwenkung (Geometrie und Lagerung) und Betätigung (Kraftquelle und Betätigungselemente). Für die Schwenkung gibt es 2 Möglichkeiten: Gemeinsamer Drehpunkt für beide Hufpaare, oder getrennter Drehpunkt für Vorder- und Hinterläufe.
Damit ergeben sich folgende ordnende Gesichtspunkte (a):
I. Bei Drehpunkt auf der Mittelsenkrechten:
- Lagerung im Bereich der Mittelsenkrechten
- Lagerung auf dem Kreisbogen der Hufe
- Lagerung auf dem Kreisbogen außerhalb der Hufe
II. Bei Drehpunkt an den Hufen:
- ohne seitliche Verschiebung
- mit seitlicher Verschiebung
und folgende unterschiedliche Merkmale (b):
I. Drehpunkt unterhalb der Basislinie
II. Drehpunkt auf der Basislinie
III. Drehpunkt oberhalb der Basislinie
IV. Drehpunkt am Körper
(4) Kombination der Lösungselemente mittels eines morphologischen Kastens
Die ordnenden Gesichtspunkte und die unterschiedlichen Merkmale werden in einer rechteckigen 4x5-Matrix (morphologischer Kasten!) kombiniert. Das ergibt insgesamt 20 Lösungsfelder. Von diesen können sofort 8 ausgeschieden werden, weil sie technisch unmöglich sind. Die übriggebliebenen 12 Lösungsmöglichkeiten werden jetzt nacheinander diskutiert. Dazu werden literarische Kriterien (Plinius), kunsthistorische (Bilder auf Münzen, Reliefs) und technische Kriterien herangezogen, wie Standfestigkeit (sehr wesentlich!), Untrennbarkeit des Hirschen von der Hand, Herstellbarkeit zur damaligen Zeit, optischer Eindruck, aber auch Anheben der Läufe, Rückprall, Betätigung und Reibungsverluste im Lager. Diese werde in einerr Skala von -2 (ungünstig) bis +2 (günstig) bewertet.
(5) Erläuterung und Beurteilung der entstandenen Lösungen und Beseitigung bzw. Minderung erkannter Mängel
Er kommt nach allen diesen Überlegungen zum Ergebnis, daß seine sog. Lösung Nr.13 die ist, die alle Kriterien am Besten erfüllt: Dabei schwenkt der Hirsch um einen Drehpunkt an den Hufen. Beim Anheben der Vorderläufe befindet sich die Lagerung an den Hinterhufen und beim Anheben der Hinterläufe an den Vorderhufen. Dazu befinden sich unter den Hufen klauenförmige Ansätze und in Vertiefungen in der Hand des Apollo je ein Lagerbolzen, auf den die Ansätze passen. Durch eine einfach gestaltete Sperre kann erreicht werden, daß der Hirsch nicht von der Hand entfernt werden kann. Das einfachste Übertragungselement für die Handkraft ist dabei eine Schnur. Diese Rekonstruktion ist robust, langlebig, einfach herzustellen und leicht zu bedienen. Der Hirsch besitzt die von Plinius erwähnten Klauen, die in die Hand des Apollo eingreifen, und die Hufe können wie beschrieben zurückprallen.

Geklärt werden sollte durch die Altertumswissenschaft noch die Funktion der Apollostatue. War sie als 'Spielzeug' jedermann zugänglich, oder wurde sie von einem 'Eingeweihten', hinter einer Wand verborgen, bedient. Oder konnte sie von Pilgern, die die beiden Seilzüge für die Bewegung nicht unterscheiden konnten, zum Losen oder Entscheiden - je nachdem welche Läufe der Hirsch anhob - genutzt werden.

Hinzugefügt habe ich
(1) 2 Skizzen des Hirsches, die zeigen wie die Klauen unter den Hufen in die Hand des Apollo eingreifen.
(2) Eine Skizze, die den Verlauf der Seilzüge zeigt. Dabei gibt es die Möglichkeit von 2 Seilezügen Z1 und Z2, oder die Möglichkeit von nur einem, wobei der Hirsch dann durch die Scherkraft wieder nach vorne fällt.
(3) Eine Skizze der Apollostatue, wie sie vor einer Wand gestanden haben kann, mit einem unsichtbaren Bediener dahinter.

Quellen:
- Der Kleine Pauly
- Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie
- Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon
- Jennifer Lynn Larson, Ancient Greek Cults
- V.M. Strocka, Der Apollon des Kanachos in Didyma und der Beginn des Strengen
Stils
- Reinhold Merkelbach, Weisse KNAXZBI-Milch, in Philologica - Kleine ausgewählte
Schriften
- H. J. Schwerdhöfer, Eine Methode zur Rekonstruktion antiker Mechaniken erläutert
an der Apollon-Philesios-Statue des Kanachos ,in Thetis, Mannheimer Beiträge zur
klassischen Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns, Band 10 (2003)
- Wikipedia

Mit freundlichem Gruß
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Beitrag von Peter43 » So 26.07.09 21:22

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Beitrag von klausklage » So 26.07.09 23:10

Fortuna Muliebris

Der Kult der Fortuna Muliebris steht im Zusammenhang mit der Coriolan-Sage, die heute vor allem durch die Tragödie von Shakespeare bekannt ist. Gnaeus Marcius Coriolanus soll ein Nachfahre des Königs Ancus Marcius gewesen sein. Heute hält man ihn für einen erfundenen Charakter, die römischen Geschichtsschreiber berichten über ihn aber wie von einer realen Person. Danach war er ein Kriegsheld und einflussreicher Politiker, aber auch ein Vertreter der alten Ordnung, der auf die Vorrechte der Patrizier gegenüber den Plebejern pochte. Sein hartnäckiger Kampf gegen die Volkstribunen führte schließlich zu seiner Verbannung aus Rom. Enttäuscht wendete er sich den feindlichen Volskern zu und führte im Jahr 488 v. Chr. deren Armee gegen seine ehemalige Heimat. Die Römer konnten ihm militärisch nichts entgegensetzen und versuchten verzweifelt, ihn durch eine Gesandtschaft der Senatoren umzustimmen, aber vergeblich.

In der Stunde der Not zog darauf eine Gruppe römischer Frauen ins Lager der Volsker, angeführt von Coriolans Mutter, der greisen Veturia, sowie seiner Frau Volumnia, die seine beiden kleinen Kinder mit sich führte. Ihr Flehen erweichte Coriolan und er brach die Belagerung ab. Über sein weiteres Schicksal gibt es unterschiedliche Berichte: Entweder haben ihn die Volsker aus Enttäuschung über den Rückzug getötet, oder er lebte bis ins hohe Alter in der Verbannung.

Die Frauen baten den Senat darum, an der Stelle, wo sie Coriolan zum Rückzug bewegen konnten, einen Tempel zugunsten der Fortuna errichten zu dürfen. Dies war ein ungewöhnliches Verlangen, waren doch Frauen an sich nicht vermögensfähig und konnten daher formell auch keinen Tempel stiften. So kaufte der Senat selbst aus Staatsmitteln das Gelände am vierten Meilenstein der Via Latina und ließ dort einen Tempel errichten. Die Frauen spendeten aber aus ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ein zweites Kultbild der Göttin. Als der Tempel am 06. Juli 486 v. Chr. eingeweiht wurde, sprach das von den Frauen errichtete Kultbild: „rite me matronae dedistis riteque dedicastis“ (Rechtmäßig habt ihr Frauen mich gestiftet und rechtmäßig mich geweiht). Da der Ausspruch beim ersten Mal im Gesprächslärm untergegangen war und nur von wenigen vernommen wurde, wiederholte die Statue diese Worte sogar noch einmal laut und deutlich, nachdem man für Ruhe gesorgt hatte.

Das Standbild billigte also, dass sich die Frauen über die rechtlichen Schranken hinweggesetzt hatten. Der Senat respektierte den göttlichen Willen und übertrug den Kult der Göttin alleine den Frauen statt den männlichen Priestern. Das Standbild durften nur univiriae berühren, also Frauen, die nur einmal verheiratet waren. Den wiederverheirateten Frauen hatte sich Fortuna nicht günstig gezeigt, da sie ihren ersten Mann (in der Regel durch dessen Tod) verloren hatten.

Auf Münzen begegnet uns Fortuna Muliebris auf einem Denar, den Marc Aurel für Faustina d. J. prägen ließ. Hintergrund war wahrscheinlich ihre Heirat, vielleicht aber auch die Hoffnung auf die glückliche Geburt eines Thronfolgers. In der Tat konnte man Faustina als „vom Glück verwöhnt“ ansehen, denn sie war sowohl Tochter als auch Frau eines Kaisers. Fortuna Muliebris ist hier sitzend dargestellt, als Ausdruck des Wunsches nach stabilem, dauerhaftem Glück. Mit dem Ruder steuert Fortuna das Schicksal, das Füllhorn symbolisiert den Reichtum, den das Glück hervorzubringen vermag.

RIC 683 (R); C. 107

Quellen:
- Livius, Ab urbe condita II, 40
- Sextus Aurelius Victor, De Viris Illustribus I, 19 (http://www.gottwein.de/Lat/AurVict/vict_vir_ill_01.php)
- Plutarch (http://www.greektexts.com/library/Pluta ... g/401.html)
- Roscher, Ausführliches Lexikon der der griechischen und römischen Mythologie
- Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte, S. 181
- Tobias Bärmann/ Robert Schneider, Die Reichsprägungen für Annia Galeria Faustina minor und Lucilla unter Marcus Aurelius (http://fara.cs.uni-potsdam.de/~niess/mu ... .html#fuss)
- http://www.thaliatook.com/OGOD/muliebris.html
- http://www.liceostellini.it/feste/fr/fo ... IEBRIS.HTM

Gruß,
Olaf
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Beitrag von Peter43 » So 26.07.09 23:29

Eine schöne und interessante Geschichte, auch deswegen, weil ich sie nicht kannte. Und ein Dankeschön, daß mal jemand anderes wieder einen Artikel eingestellt hat.

Mit freundlichem Gruß
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Beitrag von curtislclay » Mo 27.07.09 07:48

Auch ich habe diese interessante Geschichte nicht gekannt, auch die interessante Potsdamer Website über die Münzprägung der römischen Kaiserinnen war mir unbekannt.

"Hintergrund war wahrscheinlich ihre Heirat, vielleicht aber auch die Hoffnung auf die glückliche Geburt eines Thronfolgers."

Geprägt wurde dieser Denar aber nicht lange vor Faustinas Tod im J. 176, weil diesselbe Coiffure auch auf ihren Münzen als Diva fortgesetzt wird.

Deshalb kann der Typ kaum auf ihre Heirat im J. 145 oder auf die Geburt ihrer Kinder zwischen 147 und etwa 162 hinweisen.

Faustina soll den Aufstand von Avidius Cassius im J. 175 angestiftet haben, und nach dem Aufstand begleitete sie Marcus und Commodus auf ihrer Reise in den Osten. Vielleicht hängt der Typ mit diesen Ereignissen zusammen.

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Beitrag von Peter43 » Mi 05.08.09 17:45

Die griechische Spinx

Als ich mich jetzt mit dem griechischen Rätsel beschäftigte, stellte ich überrascht fest, daß es noch keinen Artikel über die griechische Sphinx gibt. Dies soll jetzt nachgeholt werden. Es gibt aber bereits einen Artikel über die ägyptische Sphinx, den ich allen wärmstens empfehle: http://www.numismatikforum.de/ftopic11926-240.html

Die folgenden Münze hatte ich bereits einmal vorgestellt. Aber da ging es um die Vs., die Sibylle Herophile. Hier soll jetzt die Rs. im Vordergrund stehen. Die Geschichte über die griechische Sphinx gehört zu den bekanntesten der griechischen Mythologie. Umsomehr hoffe ich, neues und noch unbekanntes vorstellen zu können,

Die Münze:
Troas, Gergis, quasi-autonom, 400-241 v.Chr.
AE 9, 0.98g
Av.: Büste der Sibylle Herophile, frontal blickend, belorbeert, geschmückt mit zwei länglichen
Ohranhängern und einer Perlenkette
Rv.: Weibliche Sphinx, geflügelt, n.r. sitzend
im re Feld GER
SNG von Aulock 1513; BMC 2-4
selten, S+/fast SS

Mythologie:
Die bekannteste Geschichte über die thebanische Sphinx ist diese:
Hera hatte einen Zorn auf die Thebaner, weil deren König Laios - der auch als Erfinder der Homosexualität galt (nach anderen aber Orpheus) - Chrysippos, den Sohn des Pelops und der Nymphe Astyoche, während der nemäischen Spiele wegen dessen Schönheit entführt hatte. Deswegen schickte sie ihnen die Sphinx wie einen Würgeengel zur Strafe. (Nach anderen war es Dionysos, der sie schickte). Die Sphinx war die Tochter des Typhon und der Echidna, die eine ganze Reihe von Ungeheuern zur Welt gebracht hatte: den Kerberos, die Hydra, den Nemeischen Löwen, die Chimaira, die Skylla, die Gorgo u.a.

Die Spinx kam vom äußersten Teil Äthiopiens nach Theben geflogen und ließ sich nieder auf dem Berge Phikion unweit von Theben und drangsalierte das Volk. Nachdem sie von den Musen viele Rätsel gelernt hatte, legte sie den Thebanern das folgende vor: Was ist das, was nur einen Namen hat und vierfüßig, zweifüßig und dreifüßig wird?

Das Orakel hatte den Thebanern nun gesagt, sie würden diese Plage erst los werden, wenn sie das Rätsel gelöst hätten. Deshalb gingen viele zur Sphinx und versuchten sich an einer Lösung. Aber wer es nicht erraten konnte, den ergriff die Sphinx, zerriß und fraß ihn.

Sie ging auch selbst nach Theben und befragte die Thebaner auf den Straßen und Plätzen. Auch hier wurden die Unglücklichen gefressen. Inzwischen war Laios unerkannterweise durch seinen Sohn Oidipos getötet worden, und sein Bruder Kreon hatte den Thron von Theben bestiegen. Als auch dessen Sohn Haimon von der Sphinx getötet worden war, ließ Kreon öffentlich ausrufen, wer das Rätsel erraten könnte, sollte seine Schwester Iokaste, die Witwe seines Bruders Laios, zur Frau und das Königreich dazu haben.

Da meldete sich Oidipus und erriet die Lösung: Es ist der Mensch, der vierfüßig geboren wird, da das Kind auf allen Vieren kriecht, herangewachsen ist der Mensch zweifüßig, gegen das Alter hin aber nimmt er als dritten Fuß den Stab zur Hand. Hierauf stürzte sich die Sphinx von ihrem Felsen hinab in den Tod. Oidipus aber erhielt den ausgesetzten Preis.
Der Seher Teiresias aber wirft ihm in Sophokles' Drama 'König Ödipus' vor, daß er zwar das Rätsel der Spinx lösen konnte, aber nicht das seiner eigenen Existenz:
„Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen,
Nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst –
'Weißt du, von wem du bist?“

Es gibt aber auch andere Versionen dieser Mythologie. Pausanias z.B. erzählt:
Die Sphinx sei eine uneheliche Tochter des Laios gewesen. Ihr hatte er, weil er sie liebte, die Lösung des Rätselspruchs verraten. Die war einst dem Kadmos mitgeteilt worden, und nur die Könige selbst hatten sie gewußt. Dieses Wissen ging dann über auf Iokaste und deren Kinder. Nun hatte aber Laios viele Söhne von Nebenfrauen. Wenn einer von ihnen zur Sphinx kam und das Recht auf das Reich beanspruchte, sagte sie ihm, wenn er der echte Thronfolger sein, dann wüßte er die Lösung des Rätsels. Kannte er sie nicht, kostete es ihn das Leben, weil er das Reich unbefugterweise habe an sich reißen wollen. Endlich kam Oidipus, der das Orakel im Traum erfahren hatte.

Hintergrund:
Natürlich stammt auch die griechische Sphinx letztendlich aus Ägypten. Sie kam durch Vermittlung der kretisch-mykenischen Kultur nach Griechenland, wurde aber in freier Form übernommen. Sie machte einen Bedeutungswandel durch, indem sie sich mit Gestalten der Volksmythologie mischte: Lamien, Empusen, Harpyien, Sirenen und anderen unheimlichen Gespenstergestalten. Die Sphingen waren Todesdämonen und wurden verwendet als Apotropaion, Wappentier, an Heiligtümern und auf Gräbern, auch einfach ornamental. Die thebanische Sphinx hebt sich aus ihnen heraus als individualisierte Gestalt.

Homer kannte sie noch nicht. Das erstemal erwähnte sie Hesiod. In seinem böotischen Dialekt hieß sie Phix. Deshalb heißt der Berg bei Theben auch Phikion = der sphingische Berg. Erst später wurde daraus Sphix und dann Sphinx, vielleicht um eine Verbindung zu sphingere herzustellen, was erdrosseln heißt. Ein schöner Name für ein Monster, allerdings zerriß und fraß sie ihre Opfer. Im Kleinen Pauly wird diese Ableitung aber als wenig einleuchtend bezeichnet, weil der Name mit dem S-Anlaut wohl der Ursprüngliche gewesen sei; vgl. ägyptisch ssp-'nh. Als weibliches Wesen erschien sie zum ersten Mal um 750 v.Chr. und die erste Abb. haben wir auf einer attischen schwarzfigurigen Vase des Archikles und Glauketes aus dem Jahr 550 v.Chr. Hier wird sie explizit SPHIXS genannt.

Apollodor beschreibt sie als einen geflügelten Löwen mit Frauenkopf. Zunächst hatte sie sichelförmige Flügel, später Vogelflügel, manchmal noch einen Schlangenschwanz.

Das berühmte Rätsel der Sphinx ist eigentlich ein Märchenmotiv, das es über die ganze Welt verstreut gibt: die Gewinnung der Braut durch Besiegung eines Unholds und dessen Selbstvernichtung. Die Griechen, die Rätsel leidenschaftlich liebten, nannten diese Art von Rätsel ein Griphon. Die erste Erwähnung findet sich auf einer Vase von 470-460 v.Chr. in Form eines Hexameters. So stammt sie vielleicht aus der Oidipodia, einem verlorenen Werk, von dem aber Elemente bei Sophokles und anderen zufinden sind. Aufgezeichnet ist es in 2 Fragmenten von Euripides Oidipus-Werk, das verloren ist. Dieses Rätsel gibt es auch von Zakynthos und auf Lesbos. Es wird auch noch von einem zweiten Rätsel berichtet: "Wer sind die beiden Schwestern, die sich stets gegenseitig erzeugen?" Antwort: Der Tag und die Nacht!

Bei Palaiphatos habe ich eine nette Erklärung der Mythe gefunden, die ich hier mitteilen will. Palaiphatos lebte zur Alexander des Großen und hat in seinem Buch 'Peri apiston istorion' (dtsch. Unglaubliche Geschichten) die alten Mythen rationalistisch erklärt. Gerade über die Sphinx-Sage macht er sich besonders lustig. Er fragt z.B: Warum haben die Thebaner sie nicht einfach erschossen, anstatt zuzuschauen, wie sie ihre Landsleute auffraß? Oder: Wie konnte sie sich zu Tode stürzen, da sie doch Flügel hatte? Die Wahrheit sei gewesen: Als Kadmos nach Theben kam und sich dort niederließ, habe er eine Amazone namens Sphinx zur Frau gehabt. Als er dann aber die Harmonia heiratete, habe Sphinx aus Eifersucht eine Schar Kadmeer um sich gesammelt und sei mit ihnen zum Sphinxberg gezogen, um von da den Kadmos zu bekriegen. Das griechische Wort für 'Rätsel' (ainigma) bedeute auf böotisch 'Hinterhalt'. Die hinterhältigen Überfälle der Sphinx hätten durch Mißverständnisse die Sage von ihrem Rätsel erzeugt. Endlich sei die Sphinx von Oidipus, nachdem Kadmos ihm reiche Versprechungen gemacht habe, bei Nacht überwältigt worden.

Später schlichen sich auch erotische Momente in das Bild der Sphinx. Besonders natürlich bei den Symbolisten des 19.Jh. Bei Psychoanalytikern steht sie manchmal für die erotisch-anziehende, intellektuell-überlegene, aber auch grausame Verkörperung des Frauenwesens, das dem Mann Angst einjagt.

Hinzugefügt habe ich:
(1) das Bild einer rotfigurigen attischen Kylix aus Vulci, 480-470 v.Chr., zugeschrieben dem Oidipus-Maler, Vatikan, Museo Gregoriano-Etrusco. Sie zeigt Oidipus als Reisenden mit Petasos vor der auf einer Säule sitzenden Sphinx, wie er ihrem Rätsel lauscht.
(2) ein Bild des Ölgemäldes 'Oedipus et Sphinx', 1808, von Jean Auguste Dominiques Ingres (1780-1867), dem großen französischen Maler, Louvre/Paris. Hier sehen wir dieselbe Szene aus der Sicht eines Klassizisten.
(3) ein Bild des Gemäldes 'Die Liebkosungen (The Sphinx or The Caresses)', 1896, des belgischen Symbolisten Fernand Khnopff (1858-1921), heute im Musee Royaux des Beaux-Arts in Brüssel.

Quellen:
Der Kleine Pauly
Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon
Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie
Sophokles, Oedipus Tyrannus
Aghion/Barbillon/Lissarrague, Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst
http://www.theoi.com/Gallery/M18.3.html
http://www.users.globalnet.co.uk/~loxias/sphinx.htm
Kai Brodersen, Die Wahrheit über die griechischen Mythen: Palaiphatos' Unglaubliche Geschichten, Rowohlt

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