Seite 4 von 7

Verfasst: Mi 25.03.09 13:49
von KarlAntonMartini
Ein großer Teil der Token aus der Conder-Periode 1785 bis 1800 wurde von Geschäftsleuten zur kommerziellen Werbung genutzt. Das galt vor allem für die Weltstadt London. Dort betrieben die Gebrüder John und Gilbert Pidcock in den oberen zwei Stockwerken eines Gebäudes (!) eine Menagerie. 1790 kauften sie für 700 Pfund Sterling ein ostindisches Rhinozeros. Das Tier wurde täglich mit einem Viertel Zentner Klee und einem Viertel Zentner Schiffszwieback "ernährt". Es soll in der Lage gewesen sein, binnen einiger Stunden mehrere Eimer Wein auszutrinken. Für solche Spektakel hatten die Besucher einen Eintritt von einem Shilling zu entrichten, die Besichtigung aller Räume der Menagerie kostete eine halbe Crown (2/6). Also eher was für die "höheren" Stände. Das arme Tier überlebte diese Behandlung nur bis 1792, wurde dann begraben und nach zwei Wochen exhumiert, weil es der Tierpräparator Hall ausstopfte. Was dann mit dem ausgestopften Exemplar passierte? Jedenfalls bestellten die Pidcocks 1795 bei dem gerade aus Birmingham nach London übersiedelten Graveur und Tokenhersteller Charles James eine Serie von Reklametoken in Größen von Pennies, Halfpennies und Farthings. Das lebende Tier hatte James also nicht abkonterfeit, möglicherweise aber das Präparat. Später wurden diese Stempel offenbar auch von Spence und evtl. sogar Skidmore verwendet, weil James die eigene Tokenproduktion aufgab und nur noch gravierte. Es gibt Token, die klein und dünn sind und andere, die solide geprägt wurden. Möglicherweise wurden diese auch wie Eintrittskarten verwendet. Und so gelangte das Rhinoceros, das so traurig geendet hatte, auf diesen Token (DH Middlesex 416a):

Verfasst: Do 26.03.09 14:06
von KarlAntonMartini
Der oben erwähnte Tierpräparator Thomas Hall betrieb ebenfalls eine Wunderkammer, das "Hall's Curiosity House". Neben ausgestopften exotischen oder mißgebildeten Tieren stellte er auch ungewöhnliche Menschen aus. Eine seiner Darstellerinnen war Mrs. Amelia Newsham. Diese war eine Negersklavin aus Jamaica und von ihrem Besitzer dort an dessen Sohn in England verschenkt worden. Der hatte sie an zwei Schausteller verkauft, die mit ihr als Attraktion "The White Negress" durch England zogen. Amelia war nämlich Albino. Ihr gelang es, die Freiheit zu erhalten, gleichwohl ließ sie sich weiter zur Schau stellen. Dies setzte sie auch fort, als sie schon verheiratet war (mit einem Engländer) und sechs Kinder hatte. Hall verteilte an sein Publikum diesen Token (DH Msx 317):

Verfasst: Do 26.03.09 23:33
von klaupo
Es ist schon interessant, einen Blick in den Alltag von damals und auf das zu werfen, was die Menschen seinerzeit als Sensation empfanden. Mrs. Amelia Newsham war nach heutigem Denken vermutlich eine Person des öffentlichen Interesses und selbstbewußt genug, das auch umzusetzen, als sie es eigentlich nicht mehr nötig hatte.

An mangelndem Selbstbewußtsein fehlte es allerdings anscheinend auch Mr. Thomas Hall nicht: als THE 1st ARTIST IN EUROPE stellt er sich auf einem seiner Token vor (D&H 319c). Im Rückblick auf seine Arbeit im und an dem Nashorn weiter oben war das sicher nicht ganz unberechtigt.

Gruß klaupo

Verfasst: Fr 27.03.09 13:03
von KarlAntonMartini
Der schöne Vogel, wahrscheinlich ein Riesentukan, respektive der gleiche Stempel wurde auch für einen Token von Pidcock verwendet (DH Msx 426), das läßt vermuten, daß dieser ein ähnliches Schicksal hatte, wie das Rhinoceros. -

Nun bestand die Lebenswirklichkeit des georgianischen England für die allermeisten Leute mehr in Arbeit als im Vergnügen, und die Arbeitsbedingungen waren wenig erbaulich. Hier ein Token einer Hutmacherei, die eine Seite zeigt das Geschäft, über der Türe ein Hut. Auf der anderen Seite ist der Arbeitsprozeß dargestellt: drei Arbeiter walken die Filzstücke über einem Becken, das mit schwefliger Säure gefüllt ist, im Hintergrund rechts zieht einer die nassen Filzstücke über die Holzformen und in der Mitte zeigt einer einen fertigen Hut.

Verfasst: Mo 30.03.09 13:00
von KarlAntonMartini
Die Periode der sog. "Conder"-Tokens endete ja ca. 1800. Zunächst verhinderte ein steigender Kupferpreis, staatliche Münztätigkeit und gesetzliche Behinderungen eine weitere Ausprägung. Von 1811 bis 1820 kam es zu einer zweiten großen Prägetätigkeit, die überwiegend in Birmingham ausgeübt wurde. Die Besteller waren Fabriken und Handelshäuser, die das Kleingeld dringend zur Lohnzahlung brauchten, viele in Seehäfen. Auch die Truppenbesoldung in Spanien (Wellington-Tokens) wurde mit solchen Stücken erleichtert. Natürlich gab es bald wieder leichtgewichtige anonyme Stücke, von denen viele in die Kolonien, hauptsächlich nach Canada abwanderten. - In diese Serie gehört auch dieser Token, den der Admiral Sir Isaac Coffin, Bt. (1759-1839) 1815 für die Magdalen Islands im Lorenz-Strom prägen ließ. Diese Inselgruppe gehörte ihm seit 1774, staatsrechtlich ist sie bis heute ein Teil Quebecs. 1815 besuchte er diese Inseln und ließ sich dafür von seinem Freund, dem Birminghamer Fabrikanten Thomason solche Token herstellen, um sie als Darlehen an Einheimische auszuzahlen. Über die Stückzahl ist nichts bekannt, aber die wenigen vorhandenen sind meist stark umgelaufen. Abgebildet sind ein Seehund (phoca vitulina concolor) auf einer Eisscholle und ein zum Trocknen aufgeklappter Kabeljau (Stockfisch). Erstaunlicherweise bringt es der Stockfisch immer noch zu kulinarischer Reputation, z,B. als Baccalà vicentina. Paolo Conte singt dazu:

« "Pesce Veloce del Baltico"
dice il menù che contorno han
torta di mais e poi servono
polenta e baccalà
cucina povera e umile
fatta d'ingenuità
caduta nel gorgo perfido
della celebrità »
(Paolo Conte, Pesce veloce del Baltico)

Ich habe das Gericht einmal in einem Ristorante in Borgo Valsugana probiert, ehrlich, es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, daß ich ein italienisches Essen absolut widerwärtig fand. Mit dem Token hat das natürlich nichts zu tun und ich entschuldige mich für diese Abschweifung. Grüße, KarlAntonMartini

Verfasst: Mo 30.03.09 15:05
von diwidat
@ KAM,
verzeih mir, wenn ich Deine Bilder etwas nachbearbeitet habe, um sie besser erkennen zu können.

Bei der Bildbearbeitung ist nur etwas mehr Licht auf das Bild gegeben und der Kontrast hochgezogen worden.
Die Beleuchtung der Prägungen bei der Aufnahme von der Unterkante erzeugt oft bei der Betrachtung ein Umkippen des Bildes in eine inkuse Ansicht. Das kann vermieden werden, wenn das Licht bei der Aufnahme von oben kommt.
Wird mit dem Scanner "fotografiert", muss man die geprägte Metallscheibe kopfstehend in den Scanner legen und später beim Gerade richten im Computer wieder rumdrehen.

Gruß diwidat

Verfasst: Mo 30.03.09 16:02
von KarlAntonMartini
Danke, diwidat! Ich werde nächstens etwas damit experimentieren. Aber es ist schon phänomenal, was man mit der Bildbearbeitung so alles hinbekommt. Der sehr deutliche Kratzer unter dem Seehund, der auf meinem Bild zu sehen ist, verschwindet bei diwidats Bearbeitung fast völlig. - Und der schöne Grünschimmer erinnert mich gleich wieder an den Baccalà...Grüße, KarlAntonMartini

Verfasst: Mo 30.03.09 18:17
von Münz-Goofy
KarlAntonMartini hat geschrieben:Aber es ist schon phänomenal, was man mit der Bildbearbeitung so alles hinbekommt.
Besonders phänomenal ist es, wie man mit dem Bildbearbeitungsprogramm die leicht abgeschnittene Oberkante der Seehundseite wieder komplettieren kann. Welches Programm benutzt Du, diwidat :D ?

Entschuldigt bitte meine Einlassung, aber Afrasi ist z.Z. in Urlaub und ich vertrete ihn in Hinsicht auf Bemerkungen dieser Art.

Liebe Grüße
MG

Verfasst: Mo 30.03.09 19:10
von KarlAntonMartini
Also, so schlecht war mein Scan nicht, vollständig ist die Münze drauf! Der abgeschnittene Eindruck täuscht. :wink:

Verfasst: Mo 30.03.09 20:16
von heripo
Ich denke, man muß gar nicht unbedingt mit einem Bildbearbeitungsprogramm arbeiten. So habe ich z.B. festgestellt, daß man beim Fotografieren mit Macro - je nachdem wie man den Lichteinfall auf die Münze wählt, die unterschiedlichsten Resultate erzielt. So kann man z.B. Porträt-Profile verdeutlichen, wenn man diese auf die Schattenseite dreht und so können auch Kratzer "verschwinden" wenn kaumn Licht auf deren Kanten fällt. Schon längst habe ich festgestellt, dass man daher den Bildern in den Auktionen oftmals nicht trauen kann. Es geht halt nichts über das persönliche Kennen eines Anbieters - bzw. den Erwerb der Münze "vor Ort" nach persönlichen Augenschein und unverfälschtem Blick durch die eigene Lupe.
Gruß heripo

Verfasst: Mo 30.03.09 22:09
von diwidat
@ MG,
mein verlängerter Arm zur Bildbearbeitung ist Adobe Fotoshop Elements.
KAM hat recht, das Bild des Token war vollständig. Das Bild wurde nur gedreht und der Schatten etwas zurück genommen.

@ heripo,
Dein Einwand ist absolut richtig. Seit 25 Jahren sind bei mir Kleinbildkameras im Einsatz für die Dias zu meinen Vorträgen.
Es war mir auch gelungen von den Münzen Vorder- und Rückseite auf ein Dia zu bekommen. Die Arbeit und der Zeitbedarf der dafür erforderlich war, steht aber in keinem Verhältnis zu dem Aufwand den ich heute benötige.

Für einen normalen Vortrag benötigte ich ca. 80 - 100 Dias, mußte aber mindestens 5 ganze 36er Filme belichten = 180 Dias, wovon die Hälfte oder mehr in den Eimer gingen, da unbrauchbar.
Belichten, entwickeln, aussortieren und einsortieren waren mindestens 5 Tage volle Arbeit.

Heute, mit einer Digital Kamera, sind das 2 - 3 Nachmittage vor dem Computer und die Bilder sind wesentlich besser.

Bildausschnitte, Geraderichten, Nachbelichtung, Weißabgleich und Helligkeit, sowie Farbanpassung und Bildschärfe sind nur noch wenige Minuten Arbeit.
Verschossene Dias mussten halt noch mal gemacht werden.

Gruß diwidat

Verfasst: Mi 01.04.09 20:48
von klaupo
Um nach diesem Exkurs mal wieder auf die Token zu kommen: Ich habe zwar nicht den Hintergrund von @KAM, aber man kann sich auch "ohne" das eine oder andere zusammenreimen. Die beiden Token z. B. gestatten einen Hinweis auf den Warenaustausch zwischen England und Canada. Bei beiden geht es - bei Kleingeldmangel offenbar auf beiden Seiten des Atlantik - um Eisenkleinteile und Nägel. Oben der Hersteller und Exporteur in Bristol, unten der Importeur (auf dem Faß steht zu lesen: "Nails & Spikes") in Halifax.

Referenzen habe ich - wie üblich - leider nicht zu bieten.

Gruß klaupo

Verfasst: Mi 01.04.09 22:42
von diwidat
Der Bristol Token zeigt auf der Schiffsseite den Begriff "Sheathing Nails", der meine Neugierde erweckte.
Mein alter Webster gab mir nach Befragung nur eine unbefriedigende Antwort,
so etwas von Säbelscheiden oder auch Penistüllen etc.

Erst Google hatte die richtige Antwort.
Da wir im Allgemeinen-> Dachziegel haben, kennt man bei uns diese -> Dachplatten nicht, die festgenagelt werden müssen, also die Roof Sheats.

http://www.vandykes.com/product/sb12000 ... thing-nail

Gruß diwidat

Verfasst: Mi 01.04.09 22:52
von KarlAntonMartini
Zu diesen Nägeln hatte ich vor Jahren schon mal was geschrieben. Hier ging es darum, Segelschiffe aus Holz mit angenagelten Metallplatten zu verkleiden, damit Bohrwürmer und Algen keine Chance hatten und das Schiff auch schneller wurde. Die Technik ist natürlich dieselbe, wie bei den Dachplatten. Grüße, KarlAntonMartini

Verfasst: Mo 21.12.09 14:50
von KarlAntonMartini
Um diesen Schaukasten etwas wiederzubeleben, hier zunächst ein Token des "Iron Masters" John Wilkinson" aus Willey. Seine Token waren schwergewichtig, zahlreich und beliebt. Deshalb wurden sie auch gefälscht. Ich bitte aber hier mal auf die dargestellte Schmiedetechnik zu achten: