Diesmal hat es etwas länger gedauert, bis ich das Buch fertig gelesen hatte. Aber auch nicht ganz einfach, wenn ich mehrere Bücher gleichzeitig lese.
Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, Annette Kehnel.
Karl Blessing Verlag, München 2021, 487 Seiten, ca. 59 SW-Abb.
Das Bucher erhielt 2021 den NDR-Sachbuchpreis.
Wer meint, dass es bei diesem gebundenen Buch, Format 14,5 x 22 cm, um eine "kurze" und nüchterne Abhandlung geht irrt sich. Die Autorin verknüpft meist mittelalterliche Aspekte des Wirtschaftens (ausgenommen Teile der Papierherstellung und die Fuggerei in Augsburg, die schon der frühen Neuzeit zuzurechnen sind) mit unserem heutigen Leben. Gerade dieser Aspekt macht in meinen Augen das Buch so lesenswert. Ganz nebenbei räumt sie mit so manchen falschen Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Wichtig dabei, dass ihre Schlüsse wissenschaftlich fundiert sind und auf zahlreiche Auswertungen überlieferter Dokumente beruhen. Auch wenn mittelalterliche Beispiele verwendet werden, ist der Schreibstil keineswegs antiquiert. Gelegentlich wären umgangssprachlichere Begriffe wünschenswert gewesen - der universitäre Hintergrund der Autorin ist hier gelegentlich zu sehr spürbar. Für mich als numismatischen Interessierten war es ebenfalls spannend, denn es geht häufig/immer ums Geld.
Nach einer 14-seitigen Einleitung geht sie auf unsere heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten ein. Dabei sind die Überschriften der Kapitel und Abschnitte teils mit provozierenden Fragen versehen:
1. Waren wir arm vor der Erfindung des Kapitalismus?
1.1. Die Geschichte vom Fortschritt - Moderne Meistererzählungen und ihre Fallstricke
1.2. Mussten unsere Vorfahren von morgens bis abends schuften?
(Anm.: Sehr interessant! Sollten sich die FDP und "die Arbeitgeber" durchlesen.)
1.3. Europa im Hoch- und Spätmittelalter - Ein paar Daten und Zahlen
2. Sharing
2.1. Teilen macht reich - Die Wirtschaft der Klöster
2.2. Commons und die Kunst, Externalitäten zu internalisieren
(Anm.: Was meint sie? Hier kam ich zunächst in Grübeln! Es wird aber aufgelöst und wer mit den Wörtern nichts anfangen kann, versteht am Ende trotzdem um was es geht.)
2.3. Beginenhöfe - Frauen-WGs und Urban Gardening
(Anm.: Wer glaubt, Beginenhöfe sind wie strenge Klöster organisiert, wird hier eines Besseren belehrt. Nur schade, dass Männer nie eine solche Einrichtung für Ihresgleichen geschaffen haben.)
3. Recycling
3.1. Reparaturberufe und Secondhandmärkte
3.2.. Papier - Ein Recyclingprodukt schreibt Weltgeschichte
3.3. Bricolage und Assemblage - Die Wiederverwertung der Antike im Mittelalter
4. Mikrokredit
4.1. Mikrokreditbanken in den italienischen Städten - Monti di Pietà
4.2. Peer-to-Peer-Lending in mittelalterlichen Städten
(Anm.: Ich bin noch kein Wirtschaftswissenschaftler! Wenigstens ein erklärender deutscher Nachsatz würde zum Lesen motivieren. Aber keine Angst, wer erstmals angefangen hat, liest sehr gerne weiter.)
4.3. Stadtnahe Landwirtschaft - "Rent a cow" im Mittelalter
(Anm.: Sehr interessant und für mich total neu. Welcher Städter würde heute eine Kuh kaufen und sie einem Bauern zur Nutzung überlassen?)
5. Spenden und Stiften
5.1. Spenden für Gemeinschaftsprojekte - Pont Saint-Bénézet in Avingnon
5.2. Nachhaltigkeit in Kultur und Soziales - Ohne Ablass kein Michelangelo
(Anm.: Dieser neue Blick auf den Ablasshandel hat mir einen vollkommen neuen Standpunkt erschlossen - Crowdfunding im Spätmittelalter.)
5.3. Sozialer Wohnungsbau in Augsburg - Die Fuggerei
6. Minimalismus
6.1. Reichtum ist die Kotze des Glücks - Diogenes von Sinope
6.2. Geld ist Mist - Franz von Assisi
6.3. Minimalismus und Wirtschaftstheorie - Petrus Johannis Olivi
(Anm.: Ein höchst interessanter Abschnitt über einen Franziskaner, der die angeblich "moderne" Wirtschaftstheorie bereits im 13. Jahrhundert formulierte und sie auch sozial und religiös verankerte. Olivi war als Franziskaner mittellos und beschäftigte sich trotzdem mit dem Markt und Bankwesen seiner Zeit. Ihn würde ich gerne einmal treffen.)
7. Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit für die Zukunft
7.1. Was würden sie uns raten, unsere Vorfahren?
7.2. Raus aus dem Käfig der Alternativlosigkeit
7.3. Gut gegen Zukunftsangst - Rückenwind aus der Vergangenheit
Dank
Anmerkungen S. 405-448 (!!!)
Abbildungsverzeichnis
Bibliografie S. 455-481
Onlinequellen S. 483-487
Meine Anmerkungen sind gleichzeitig auch persönliche Bewertungen. Frau Prof. Annette Kehnel hat hier ein Buch vorgelegt das eine gelungene Brücke zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart schlägt. Sie arbeitet dabei grundlegende Lösungsvorschläge für die Probleme unserer Zeit (Wegwerfwirtschaft, Umgang mit Geld und Ressourcen, Reichtum und Besitzverteilung, Umweltzerstörung, Teilhabe aller an der Gesellschaft und Wirtschaft, usw.) heraus. Das Buch macht Mut kreativ zu sein, seinen eigenen Standpunkt zu verändern und ist ein gelungenes Beispiel, dass die Beschäftigung mit Geschichte kein Selbstzweck ist, sondern auch wesentlich dazu beitragen kann, die Gegenwart zu gestalten und die Zukunft "zu planen". Die vielen Anmerkungen und die üppige Bibliographie unterstreichen das breite Fundament ihrer Arbeit und ermutigen, sich in Teilbereichen selbst zu informieren und einzuarbeiten.
Der Neupreis von 24,- Euro ist gerechtfertigt und für ein eigentlich wissenschaftliches Buch günstig.
Weil ich hinter ihrem Anliegen stehen, bin ich geneigt 5 von 5 Sternen zu vergeben, jedoch plädiere ich auch für ein verständliche Sprache, die fachspezifische wissenschaftliche Begrifflichkeiten, in einem Buch, das sich an die Allgemeinheit wendet, vermeidet. Deswegen sind es nur 4 Sterne von 5.