Tokens, Value and Identity

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MartinH
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Tokens, Value and Identity

Beitrag von MartinH » Do 04.01.24 12:01

Malte hatte mich gebeten eine Rezension zu folgendem Buch zu schreiben:

Crisà, Antonino (editor): Tokens, Value and Identity – Exploring Monetiform (münzähnliche) Objects in Antiquity and the Middle Ages, European center for numismatic studies, 2021.

Bevor ich aber auf das Buch eingehen, ein paar kurze Anmerkungen. Mein Sammelgebiet sind (amtliche) Marken und Zeichen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet des RDR 1618 (zufällig gewählt nach einer Abbildung in Wikipedia). Im letzten Jahr hatte ich mich entschlossen die Sammlung durch ein paar ausgewählte Marken außerhalb des definierte Gebietes mit bekannten oder diskutiertem historischen Hintergrund zu erwerben. Dies war der Ausgangspunkt meines Interesse an Literatur über den Hintergrund von antiken und mittelalterlichen Marken. Ich bin also ein Neuling auf dem Gebiet und daher ist dieser Beitrag mehr eine Inhaltsbeschreibung als eine Rezension im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten.

Das Buch enthält 10 ausgewählte (peer-reviewed) Beiträge eines 2 tägigen Workshops, der an der „British School of Rome“ im Oktober 2018 abgehalten wurde:
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Das Buch ist im Kontext des EU-geförderte Forschungsprojektes: „Token Communities in the Ancient Mediterranean“ an der University of Warwick (2016-2021) zu sehen auf deren Website man auch weitere Literaturhinweise findet. https://warwick.ac.uk/fac/arts/classics ... cam/about/

Zwei weitere Workshops haben 2017 und 2019 stattgefunden, von dem Workshop 2017 sind alle Beiträge im Internet verfügbar, von dem Workshop 2019 leider nur Agenda und Abstracts:
Tokens: Culture, Connections, Communities (Workshop 2017, publiziert 2019):
https://numismatics.org.uk/wp-content/u ... _rowan.pdf
Tokens: The Athenian Legacy to the Modern World (Workshop 2019):
https://www.academia.edu/41166401/Token ... dern_World

Nun zu dem Buch: Ist es schon bei neuzeitlichen Marken ohne Archivalien sehr schwierig bis unmöglich ihre Funktion zu verstehen, so gilt dies insbesondere auch bei den antiken Marken. In 10 Beiträgen wird versucht anhand von Fallbeispielen in einem interdisziplinären Ansatz die Rolle, die Marken von prähistorischen Zeiten bis zum Mittelalter gespielt haben, zu beleuchten. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: Ihren Wert (ökonomisch, sozial, kulturell und sogar persönlich) und was uns Marken über die Identität der Hersteller und ihrer Nutzer verraten. Kein Sammlerkatalog, aber interessante Diskussionen zu „münzähnlichen“ Objekten, deren fortwährende Verwendung in verschiedenen Kulturen im Laufe der Zeit ein Beleg für ihre essentielle Rolle im sozialen und wirtschaftlichen Miteinander sind.

Im weiteren möchte ich kurz auf 4 Beiträge eingehen:

Kiernan, Philip: Roman imitations as an unofficial token coinage: a comparative approach
Ein Beitrag, der nicht nur für Sammler antiker Marken von Interesse ist. Ausgehend von der Definition eines “Tokens” als “Stand-in” (Stellverteter) für einen bestimmten Wert , der entweder als Ersatz für offizielle Münzen kursiert oder einen Wert darstellt, der durch den intrinsischen Metallwert nicht abgedeckt ist, versucht er die Rolle und Akzeptanz der „Imitative Bronze Coins of Postumus“ mit der Rolle und Akzeptanz der „Token and Imitation Half Pennies“ in Großbritannien und Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert zu erklären. Eindrucksvoll beschreibt er die Bemühungen von Postumus den Kleingeldmangel in der monetarisierten Gesellschaft durch Eröffnung einer Münzstätte in Trier (ca. A.D. 260) und der Herausgabe von neuen sestertii und einer neuen Münze, dem zweifachen sestertius (bei vergleichbarem Gewicht) gerecht zu werden. Ein Unterfangen was letztendlich scheiterte, nach 2 Jahren eingestellt wurde und eine massive private Nachahmung von Münzen initiierte. Von nahezu perfekten Kopien bis hin zu sehr offensichtlichen Nachahmungen.
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Ihr Abnutzungsgrad belegt auch den extensiven Gebrauch der offensichtlichen Nachahmungen und führt Kiernan dazu den Begriff „token coinage“ zu benutzen. Offensichtlich war der Wert mit dem der Token gehandelt wurde von seinem intrinsischen Wert entkoppelt und wurde nicht hinterfragt. Warum dies eine Gesellschaft zulässt versucht er mit dem Vergleich der privat hergestellten Half Pennies zu begründen.

Mittag: Peter Franz: Roman Medaillons
Mittag befasst sich mit der Abgrenzung von den relativ seltenen münzähnlichen Medaillons, die in kaiserlichen Prägestätten hergestellt wurden und im Gegensatz zu Tokens keinem monetären Zweck dienten. Neben der Definition von Medaillons und der zeitlichen Entwicklung Ihrer Ausgabe befasst sich der Autor mit der kontrovers diskutierten Frage, wer die Adressaten dieser Medaillons waren und welchem Zweck Sie dienten.

Die Medaillons gab es in Bronze, Silber und Gold
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Der Autor kommt zu dem Schluss, dass diese Medaillons dem Kaiser als ein besonderes Kommunikationsmedium dienten für eine sehr eng begrenzte Gruppe von Personen, die für seine Herrschaft von besonderer Bedeutung waren. Die Ausgabe erfolgte vermutlich zu besonderen Anlässen (Hochzeiten, familiäre Anlässe innerhalb der Kaiserfamilie, politisch/militäre Anlässe). Die Ausgabe von Medaillons endete abrupt 395 nChr. Nach Mittag weil durch die „göttliche Legitimierung des Kaisers“ die Notwendigkeit dieser Art der Kommunikation nicht mehr gegeben war.

de Callataÿ, François: „Spintriae: A rich and forgotten past historigraphy (16th – 18th centuries); Why it matters for our present understanding“

Spintriae wurden wegen Ihrer erotischen Darstellungen gerne auch als Bordellmarken angesehen – eine Beschreibung die man – weil verkaufsfördernd – heute noch manchmal in Auktionsbeschreibungen liest.

Der belgische Historiker gibt einen Überblick über die frühen numismatischen Abhandlungen zu diesen Tesserae. Beiträge die weitgehend von den Numismatikern/Historikern Ende des 19. Jahrhunderts ignoriert wurden. Wie auch Rostovtzeff (der Pabst der römischen Blei-Tesserae) wenig auf die Arbeiten seiner Vorläufer einging.

Publikationen über die später Spintriae genannten Tesserae gehen zurück ins Jahr 1571, in dem Sabastiano Erizzo diese als Bordellmarken und die Zahlen als Raumnummer interpretierte. Die Idee wurde aber bereits 1664 von Ezechiel Spanheim verworfen, der ob anderer tesserae mit gleicher Nummernrückseite zum Ergebnis kam, dass diese eher für Spiele oder öffentliche Veranstaltungen hergestellt wurden (Bemerkenswert: die heute häufig zitierte Arbeit zu den Stempelkombinationen von Tesserae mit römischen Ziffern auf der Rs wurden 309 Jahre später von Buttrey veröffentlicht). Am Ende bleibt von der populistischen Interpretation „Bordellmarke“ nur das Zitat von Ursula Kampmann: “And the moral story of the story is? Nothing is as dirty as what the viewer’s dirty imagination turns it into.”

Callataÿ belegt eindrücklich, dass viele Fakten, auf denen heutige Interpretationen beruhen, in den jahrhundertealten Werken bereits benannt wurden und das umgekehrt aber viele dort auch benannte Fakten (z.B. Häufung an Funden in Capri) mit den heutigen Interpretationsansätzen nicht erklärt werden können.

Ich finde eine Fussnote interessant, in der Clive Stannard auf dem Workshop zu Bedenken gab, dass die heute vorherrschende Hypothese von Spielmarken (ggf. in Kombination mit Militär) nicht überzeugt, da diese Tesserae durch ihr Relief sich nicht zum Stapeln eignen und auch nicht die typischen Abnutzungsspuren zeigen.

Wer sich für die Ikonographie und potentielle Funktion von den Tesserae mit römischen Ziffern auf der Rückseite interessiert, dem kann ich nur den Artikel von Alex Küter „Roman tesserae with numerals: some thoughts on iconography and purpose“ aus dem Workshop 2017 empfehlen. Für Sie ist die von Xanthos in dem Römerforum als seine Marke des Jahres 2023 benannte Marke des Gaius Mitreius ein möglicher Schlüssel für das Verständnis der Tesserae mit römischen Ziffern auf der Rückseite.

Saccocci, Andrea: The so-called “Lombard Jettons”, a medieval multi-tasking card.

In der Mitte des letzten Jahrhunderts setzte sich die Meinung durch, dass es sich bei den „Lombard Jettons“ / „Tessera mercantili“ um Rechenpfennige handelt, die in den lombardischen Handelshäusern beim Rechnen mit dem Abakus eingesetzt wurden.
In dem Beitrag sammelt Saccocci Argumente, die gegen eine ausschließliche Nutzung der Jettons als Rechenpfennige spricht. Bereits Franca Maria Vanni hatte 1995 bei der Publikation der Tessera mercantili des Museo Statale d’Arte Medievale e Moderna di Arezzo diesen Stücken eine Funktion innerhalb der geschäftlichen Aktivitäten der Handelshäuser zugesprochen bis hin zur Nutzung als Ersatz für Kurantgeld.

Als Argument erscheinen ihm (i) die sehr aufwendige Fertigung der Tessera mercantili, für eine Anwendung für die man auch kleine Steine oder Bohnen nutzen könnte. Wenn man die gut erhaltenen Stück genau betrachtet, gibt es um jedes Element eine Vertiefung im Metall, die darauf zurückzuführen ist, dass die Elemente nicht in einem Prägevorgang hergestellt wurden, sondern in einer Serie von Einzelfertigungen
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(ii) Aufgrund mittelalterlicher Quellen, die den Einsatz von quarteroli auf dem Abakus beschreiben und somit die tessera mercantili in Verbindung mit einem Wert analog eines byzantinischen tetarteron (Anm: Kupfermünze 11-2. Hälfte 13. Jhrdt.) bringen und (iii) der Interpretation der Fundorte, die entlang der Handelswege in den Südosten liegt, während Funde in Deutschland (mit schwächer entwickelter Handelsinfrastruktur) nicht vorkommen und (iv) einer Interpretation eines Gemäldes von Bicci di Lorenzo (Anfang 15. Jhrdt.)
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Das Bild stellt das Wunder der Auferstehung von 3 Jungen durch Nikolaus dar, welches sich in einer Taverne ereignet. An den Wänden der Taverne hängen die Zeichen der Handelsfirmen an den Wänden. Saccocci argumentiert, dass dies bedeuten könnten, dass Vertreter der Handelshäuser ihre Rechnung mit den Tessera mercantili begleichen konnten, die der Wirt dann bei den Handelshäusern gegen Kurantgeld tauschen konnte.


Interessant sind m.E. noch ferner folgende Links:
Die Website “Tokens of the Ancient Mediterranean” (A database of token types from the ancient Mediterranean, created as part of the Token Communities in the Ancient Mediterranean Project; die Datenbank hat über 2000 Einträge): https://coins.warwick.ac.uk/token-types/contributors

Die Website: Coins at Warwick/Token. Bis dato 30 Beiträge zu bestimmten Token. https://blogs.warwick.ac.uk/numismatics/tag/token/

Wilding, Denise, Dissertation, Warwick, 2020: Tokens and communities in the Roman provinces: an exploration of Egypt, Gaul and Britain:
http://wrap.warwick.ac.uk/160242/
Folgende Benutzer bedankten sich beim Autor MartinH für den Beitrag (Insgesamt 5):
Numis-Student (Do 04.01.24 12:20) • KarlAntonMartini (Do 04.01.24 18:23) • Pfennig 47,5 (Do 04.01.24 19:55) • didius (Do 04.01.24 22:10) • Eric_der_Sammler (Fr 05.01.24 17:06)

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