Auktionshäuser als numismatische Lemminge?

Griechische Münzen des Altertums

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Altamura2
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Auktionshäuser als numismatische Lemminge?

Beitrag von Altamura2 » Mi 07.08.24 12:01

Hallo zusammen,

seit letztem Jahr oder so wird im Handel ein offensichtlicher Hortfund von Tetradrachmen des Tigranes II von Armenien verkauft. Da hab' ich dann mal in den Geldbeutel gefasst und mir auch eine ersteigert :D . Es handelt sich um eine Variante mit einem Delta-Eta-Monogramm links und einem Theta rechts auf dem Revers, eine der häufigsten Varianten dieses Münztyps. Hier ein paar Beispiele:
https://www.acsearch.info/search.html?id=12993645
https://www.acsearch.info/search.html?id=12971738
https://www.acsearch.info/search.html?id=12913083

Als ich dann daran ging, die Münze für meine Sammlung zu dokumentieren, ist mir aufgefallen, dass fast alle Auktionshäuser diese Variante (und ganz viele andere dieser Tetradrachmen auch) der Münzstätte Tigranokerta zuordnen 8O . Irgendwie hatte ich das aber anders in Erinnerung, ich dachte an Antiochia am Orontes.

Literatur über diese Münzen gibt es nun eine ganze Menge, unten hab' ich eine kleine Auswahl zusammengestellt (in fast alle davon konnte ich auch reinschauen :D ).

Bei fast allen Autoren wird die Münze hier mit dem Delta-Eta-Monogramm und dem Theta der Münzstätte Antiochia und einem Zeitraum etwa 83-69 v. Chr. zugeordnet. Zwar manchmal mit einer gewissen Vorsicht, das wird aber zumindest als das Wahrscheinlichste angesehen.

Nur Frank Kovacs sieht das ganz anders und ordnet diese Variante (Seite 16, Nummer 74.2) Tigranokerta als Münzstätte zu und datiert mit "ca. 80-68 BC". Und warum tut er das? Ich hab' keine Ahnung :| .
Es findet bei ihm nämlich weder über die Zuordnung der Münzstätte noch über die Datierung auch nur die geringeste Auseinandersetzung mit der bis dahin herrschenden Meinung (Antiochia am Orontes und 83-69 v. Chr.) statt. Antiochia als in Betracht gezogene Münzstätte wird bei Kovacs nicht ein einziges Mal erwähnt 8O .

Auch bei anderen Abweichungen gegenüber der bislang herrschenden Lehrmeinung (oder Lehrmeinungen, ganz einheitlich ist das Bild ja nicht immer :? ) findet keinerlei Argumentation statt, sie werden Kraft seiner Wassersuppe einfach gesetzt und als Fakten hingestellt.
Warum soll ich das aber alles glauben, wenn es keine Argumente für seine und gegen die bisherige Sichtweise gibt?

Es gibt dann auch noch eine Reihe von Dingen, die zusätzlich zu denken geben:

Tigranes dem Jüngeren, einem Sohn des Tigranes II, weist Kovacs eine ganze Reihe Münzen zu, insgesamt 31 Typen (Nummern 128-158), darunter sieben Tetradrachmen und zwei Drachmen. Auf Seite 12 schreibt Kovacs "In his twentieth year (77/6 BC) Tigranes associated his son Tigranes the Younger with him as co-ruler.", was von ihm durch rein gar nichts belegt wird.
Auf Seite 22 steht "Although there is literary evidence for the co-regency of Tigranes the Younger, ...", was Kovacs dann als Vorwurf gegen Bedoukian und Nercessian vorbringt, da diese das gar nicht erwähnt und berücksichtigt hätten. Kovacs gibt selbst aber keinerlei Hinweis, welches denn die "literary evidence" gewesen sein sollte.
Bereits 2001 hat Y. T. Nercessian in "The Myth of Tigranes the Younger Coins", Armenian Numismatic Journal XXVII 4, 2001, S. 95-97, klar argumentiert, dass er keine Münzen kenne, die er Tigranes dem Jüngeren zuschreiben könne. Dieser Artikel wird bei Kovacs mit keinem Wort erwähnt, der passt ihm wohl nicht in sein Konzept.
In Maxime K. Yevadian , "Tigrane le Jeune, son histoire et ses attributions monétaires", Bazmavep 1-2 2018, S. 178-198 (https://tert.nla.am/archive/NLA%20AMSAG ... o,-254,637), wird nun die Behauptung, dass Tigranes der Jüngere jemals Mitregent gewesen sei und unter eigenem Namen Münzen geprägt habe, mit ausführlicher und nachvollziehbarer Argumentation und unter Nennung aller bekannten Quellen komplett auseinander genommen. Insbesondere wird dargelegt, dass man aus einer Stelle bei Appian (das ist wohl die "literary evidence" von Kovacs) keinesfalls den Schluss ziehen kann, dass Tigranes der Jüngere Mitregent gewesen sei. Die Zuweisungen von Kovacs werden schlicht als unplausibel entlarvt.

Einen ähnlichen Fall gibt es bei der Zuweisung einiger Münzen durch Kovacs zu einigen späteren Herrschern von Armenien, die er vor allem in "Tigranes IV, V, and VI - New Attributions", American Journal of Numismatics 20, 2008, S. 337-350 (https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id= ... 31&seq=347), vorgenommen hat und die sich in seinem Buch von 2016 wiederfinden. In einem Artikel "Tigranes V. und seine Münzen", Numismatische Zeitschrift 124, 2018, S. 9-56 (https://www.academia.edu/38449621/Tigra ... _Zeugnisse), nimmt Torsten Bendschus einen Großteil der Neuzuweisungen von Münzen von Tigranes III bis V von Kovacs auseinander und weist sie wieder so zu, wie es in P. Z. Bedoukian, "Coinage of the Artaxiads of Armenia", London 1978, der Fall war.

In den großen Sammlungen werden diese Münzen übrigens weiterhin nach dem althergebrachten Stand katalogisiert, also Antiochia und 83-69 v. Chr. Da sind zugegebenermaßen nicht alle bei ihren Beschreibungen immer auf dem neusten Stand, manche aber schon.


Dem Buch von Kovacs , das ist wohl klar geworden :D , misstraue ich also in hohem Maße :( . Interessanterweise habe ich dazu auch keine einzige richtige Besprechung in einer Fachzeitschrift gefunden, der Widerhall in der akademischen Numismatik scheint überschaubar gewesen zu sein 8) .

Was mich aber verwundert: Warum nutzt ein Großteil der Auktionshäuser das Werk und seine Zuschreibungen (man findet fast keine anderen mehr, manchmal ist Kovacs wirklich die einzige Referenz, die angegeben wird)? Bei CNG verwundert das nicht, die haben das Buch von Kovacs ja herausgebracht :wink: , warum laufen aber die anderen wie die Lemminge hinterher? Haben die das nicht gelesen? Nicht gemerkt, dass die meisten dieser hochinteressanten Neuzuweisungen auf ganz tönernen Füßen stehen? Oder hab' ich da jetzt irgendwo etwas übersehen 8O ?

Gruß

Altamura


PS 1: Das ist jetzt ein bisschen lang geworden, aber das musste ich mal loswerden :D .

PS2: Hier die oben angesprochene Literatur zum Thema:
Paul Z. Bedoukian, "A Classification of the Coins of the Artaxiad Dynasty of Armenia", ANSMN 14, 1968, S. 41-66.
Clive Foss, "The Coinage of Tigranes the Great: Problems, Suggestions and a New Find", NC 146, 1986, S. 19-66.
François de Callataÿ, "L’histoire des guerres mithridatiques vue par les monnaies", Louvain-la-Neuve 1997.
Y. T. Nercessian, "Silver Coinage of the Artaxiad Dynasty of Armenia" (SCADA), Los Angeles 2006 (https://archive.org/details/nercessian-2006-scada).
Jack Nurpetlian, "Ancient Armenian Coins: the Artaxiad Dynasty (189 BC - AD 6)", Berytus Vol. LI - LII, 2008 - 2009, S. 117-167 (https://www.academia.edu/38433318/Ancie ... C_AD_6_pdf).
Frédérique Duyrat, "Tigrane en Syrie : un prince sans images", Cahiers des études anciennes 49, 2012, S. 167-209 (https://journals.openedition.org/etudesanciennes/491).
Frank Kovacs, "Armenian Coinage in the Classical Period", Lancaster 2016 (https://www.academia.edu/107422933/Arme ... cal_Period).
.
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MartinH (Mi 07.08.24 17:25) • loron (Mi 07.08.24 22:06)

loron
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Re: Auktionshäuser als numismatische Lemminge?

Beitrag von loron » Mi 07.08.24 22:14

Hervorragender Beitrag, vielen Dank dafür!
Es ist leider so, dass für amerikanische Numismatiker alles, was nicht in englischer Sprache erschienen ist, prinzipiell als inexistent betrachten.
Weshalb Kovacs die in englischer Sprache erschienenen auch nicht wahrnimmt, ist eine andere Frage.
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Busso (Mo 19.08.24 13:04)
----------------------------
Ich komme auch mit geringen Dosen guter Laune durch den Tag.

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