Der Gestus des "spuere in sinum"
Moderator: Homer J. Simpson
- chinamul
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Der Gestus des "spuere in sinum"
Wenn ich mich recht erinnere, ist dieser Gestus in den zurückliegenden Jahren bereits mehrfach thematisiert worden, ohne daß es jedoch zu einer abschließenden, d. h. in Fachkreisen allgemein akzeptierten Deutung sowohl des Gestus selbst als auch der ihn vollziehenden Gestalt gekommen zu sein scheint.
Zunächst einmal bedarf es der Richtigstellung der Grammatik: Es muß „spuere in sinum“ heißen, da auf die Frage „wohin“ der lateinische Richtungskasus antwortet, und das ist nun mal der Akkusativ.
Des weiteren hat das Wort „sinus“ mehrere Bedeutungen, die hier alle in Betracht zu ziehen sind. Da ist zunächst die schlichte Übersetzung mit „Busen“, wobei der heutige Sprachgebrauch darunder die weibliche Brust versteht. Das aber ist eigentlich nicht korrekt, denn gemeint ist ursprünglich vielmehr das Tal zwischen den Brüsten (s. „Meerbusen“!). Denkbar ist, daß dieser Hohlraum als ein passendes Versteck für allerlei Dinge angesehen wurde, die man gerne verborgen halten wollte:
Schillers „Ibykus“:
Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht er's im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
Macht schnell die Schuldbewußten kund.
Wenn der Italiener etwas „in petto“ (lat. „in pectore“, also „in der Brust“ hat, soll das ja auch zunächst noch keiner erfahren.
Eine zweite Bedeutung von „sinus“ ist ein Bausch im Gewand, wie er etwa entsteht, wenn man es rafft. In der so entstehenden Tasche lassen sich sehr gut Dinge vor unerwünschten Blicken schützen.
Wieder Schiller, diesmal aus der „Bürgschaft“:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:
Es ist also keineswegs ausgemacht, daß die Gottheit sich auf ihre eigene entblößte Brust spuckt, wogegen auch deren Kopfhaltung sprechen würde, sondern es ist ebensogut möglich, daß sie es auf den vom Körper abgezogenen Teil ihres Gewandes tut. Der Bedeutung dieser zweifellos symbolisch aufzufassenden Handlung dürften wir allerdings auch mit diesem Erklärungsversuch nicht sehr viel näher gekommen sein, es sei denn, daß jemand damit etwas anfangen kann.
Schließlich möchte ich hier noch zwei Münzen des Hadrianus mit der Nemesis-Pax-Victoria vorstellen, die ich in jüngster Zeit erwerben konnte:
HADRIANUS 117 – 138
AR Denar Rom 134 – 138
Av.: HADRIANVS AVG COS III P P - Belorbeerter Kopf rechts
Rv.: VICTO - RIA AVG - Geflügelte Nemesis (Pax-Victoria) nach rechts gehend; mit der Rechten im wohl apotropäischen Gestus des spuere in sinum den oberen Rand ihres Gewandes vom Körper abziehend, in der Linken Zweig
RIC 282
3,53 g
HADRIANUS 117 – 138
Æ Dupondius Rom 134 – 138
Av.: HADRIANVS AVG COS III P P - Belorbeerter Kopf rechts
Rv.: Ohne Legende S C - Geflügelte Pax Nemesis nach rechts stehend; mit der Rechten im wohl apotropäischen Gestus des spuere in sinum den oberen Rand ihres Gewandes vom Körper abziehend, in der Linken Zweig
RIC 828; C. 1373
13,39 g
Gruß
chinamul
Zunächst einmal bedarf es der Richtigstellung der Grammatik: Es muß „spuere in sinum“ heißen, da auf die Frage „wohin“ der lateinische Richtungskasus antwortet, und das ist nun mal der Akkusativ.
Des weiteren hat das Wort „sinus“ mehrere Bedeutungen, die hier alle in Betracht zu ziehen sind. Da ist zunächst die schlichte Übersetzung mit „Busen“, wobei der heutige Sprachgebrauch darunder die weibliche Brust versteht. Das aber ist eigentlich nicht korrekt, denn gemeint ist ursprünglich vielmehr das Tal zwischen den Brüsten (s. „Meerbusen“!). Denkbar ist, daß dieser Hohlraum als ein passendes Versteck für allerlei Dinge angesehen wurde, die man gerne verborgen halten wollte:
Schillers „Ibykus“:
Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht er's im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
Macht schnell die Schuldbewußten kund.
Wenn der Italiener etwas „in petto“ (lat. „in pectore“, also „in der Brust“ hat, soll das ja auch zunächst noch keiner erfahren.
Eine zweite Bedeutung von „sinus“ ist ein Bausch im Gewand, wie er etwa entsteht, wenn man es rafft. In der so entstehenden Tasche lassen sich sehr gut Dinge vor unerwünschten Blicken schützen.
Wieder Schiller, diesmal aus der „Bürgschaft“:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:
Es ist also keineswegs ausgemacht, daß die Gottheit sich auf ihre eigene entblößte Brust spuckt, wogegen auch deren Kopfhaltung sprechen würde, sondern es ist ebensogut möglich, daß sie es auf den vom Körper abgezogenen Teil ihres Gewandes tut. Der Bedeutung dieser zweifellos symbolisch aufzufassenden Handlung dürften wir allerdings auch mit diesem Erklärungsversuch nicht sehr viel näher gekommen sein, es sei denn, daß jemand damit etwas anfangen kann.
Schließlich möchte ich hier noch zwei Münzen des Hadrianus mit der Nemesis-Pax-Victoria vorstellen, die ich in jüngster Zeit erwerben konnte:
HADRIANUS 117 – 138
AR Denar Rom 134 – 138
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Rv.: VICTO - RIA AVG - Geflügelte Nemesis (Pax-Victoria) nach rechts gehend; mit der Rechten im wohl apotropäischen Gestus des spuere in sinum den oberen Rand ihres Gewandes vom Körper abziehend, in der Linken Zweig
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HADRIANUS 117 – 138
Æ Dupondius Rom 134 – 138
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Rv.: Ohne Legende S C - Geflügelte Pax Nemesis nach rechts stehend; mit der Rechten im wohl apotropäischen Gestus des spuere in sinum den oberen Rand ihres Gewandes vom Körper abziehend, in der Linken Zweig
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Gruß
chinamul
Nil tam difficile est, quin quaerendo investigari possit
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Re: Der Gestus des "spuere in sinum"
Tatsächlich gibt es über das 'spuere in sinum', griechisch 'ptyein eis ton kolpon', verschiedene Ansichten. Roßbach in Roscher lehnt die apotropäische Bedeutung ab und hält die Geste für einen Ausdruck der Bescheidenheit. Dieser Meinung schließt sich auch LIMC an (LIMC VI, sv. Nemesis 232), wobei es den apotropäischen Charakter nicht zu erwähnen vergißt: The curious figure on the rev. is Nemesis who symbolizes self-restraint in victory. Her spitting in the bosom (spuere in sinum) is apotropaic in nature. The type itself was first used by C. Vibius Varus in 49 BC (Cr.494/35). Claudius' reuse of this type was surely due to his personal antiquarianism.
Diese Geste ist seit dem Frühhellenismus bekannt. Angewandt wird sie eigentlich von Schutz- undf Beistandsuchenden, die Unheil und Strafe von sich abwenden wollen. Daß Nemesis mit dieser Geste dargestellt wird bedeutet wahrscheinlich, daß sie diese Handlung paradigmatisch und stellvertretend für die Menschen vollzieht. Das ist dann ähnlich wie bei den Göttern, die mit einer Patera über dem brennenden Altar dargestellt werden. Sie opfern natürlich auch nicht für sich selbst, sondern stellvertretend für die Menschen.
Mit freundlichem Gruß
Diese Geste ist seit dem Frühhellenismus bekannt. Angewandt wird sie eigentlich von Schutz- undf Beistandsuchenden, die Unheil und Strafe von sich abwenden wollen. Daß Nemesis mit dieser Geste dargestellt wird bedeutet wahrscheinlich, daß sie diese Handlung paradigmatisch und stellvertretend für die Menschen vollzieht. Das ist dann ähnlich wie bei den Göttern, die mit einer Patera über dem brennenden Altar dargestellt werden. Sie opfern natürlich auch nicht für sich selbst, sondern stellvertretend für die Menschen.
Mit freundlichem Gruß
Omnes vulnerant, ultima necat.
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Re: Der Gestus des "spuere in sinum"
Das ist ein interessanter Gedanke, der später im christlichen "agnus dei qui tollis peccata mundi" (= "Lamm Gottes, das du die Sünden der Welt auf dich nimmst") durchaus eine Entsprechung gefunden haben könnte.Peter43 hat geschrieben:Daß Nemesis mit dieser Geste dargestellt wird bedeutet wahrscheinlich, daß sie diese Handlung paradigmatisch und stellvertretend für die Menschen vollzieht. Das ist dann ähnlich wie bei den Göttern, die mit einer Patera über dem brennenden Altar dargestellt werden. Sie opfern natürlich auch nicht für sich selbst, sondern stellvertretend für die Menschen.
Leider fürchte ich, daß wir, wie so oft, auch im vorliegenden Falle immer nur mehr oder weniger einleuchtende Vermutungen anstellen können. Das gilt übrigens auch auch für den vieldiskutierten Finger des Harpokrates.
Dennoch: Vielen Dank für Deinen wie immer kompetenten Kommentar zu meinen Ausführungen!
Gruß
Horst
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Re: Der Gestus des "spuere in sinum"
Sicher mußte man sich auch zum Zwecke der Abwehr böser Mächte nicht richtig ins Gewand spucken, aber die Geste wurde zumindest angedeutet. Diese Geste hat sich bei uns verloren, aber das apotropäische Ausspucken ist bis heute gegenwärtig: Wenn wir "Toi-toi-toi" sagen, ist das nichts anderes, lautmalerisch umschrieben!
Homer
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Re: Der Gestus des "spuere in sinum"
Bei Plinius, Nat. hist., 28. Buch, Kap. 4 (S.481) steht etwas darüber: 'Auch wenn wir von einer Gottheit die Verzeihung eines gar kühnen Unternehmens suchen, speien wir in unseren eigenen Schoß.'
http://books.google.de/books?id=Sp9AAAA ... &q&f=false
Jochen
http://books.google.de/books?id=Sp9AAAA ... &q&f=false
Jochen
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Re: Der Gestus des "spuere in sinum"
Oder wenn wir geistigen Getränken gar zu sehr zugesprochen haben...
Homer
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