Verstaubte Milliarden
Fast drei Jahre nach der Euro-Einführung sitzen die Deutschen noch immer auf einem Berg von D-Mark- Stücken und -Scheinen. Die Bundesbank vermißt gewaltige Summen in alter Währung
von Anette Sydow
Daß Elena Katsenou an diesem Vormittag in der Schlange steht, ist Zufall. Vergangene Woche hat die junge Frau einen Fund in ihrer Bettritze gemacht: Zwei Zwanzigmarkscheine, ein Zehner und ein Döschen voller Münzen. "Ich bin erst vor zwei Wochen in die Wohnung eingezogen - das Bett hatte der Vormieter da gelassen", sagt die Austauschstudentin aus Griechenland. Nun will sie die D-Mark-Scheine in Euro umtauschen, und dafür ist sie zur Düsseldorfer Filiale der Bundesbank gefahren. Daß die Schlange so lang ist, hätte sie nicht gedacht, sagt Katsenou: "Als ich ankam, standen bestimmt 15 Leute vor mir. Die wollen alle D-Mark umtauschen." Frau Katsenou staunt.
Der Andrang ist groß an diesem Vormittag. Alte Herren am Stock stehen in der Schlange hinter Arbeitern im Blaumann, die ihre Mittagspause für den Umtausch nutzen, und Schülern mit tief hängenden Jeans und Baseball-Kappe, die sich mit Bargeld-Altbeständen aus der elterlichen Wohnung das Taschengeld aufbessern. An die 100 Kunden kommen im Laufe dieses Tages mit D-Mark-Resten in die Bundesbank. Sie wollen Pfennigmünzen umtauschen, die sie in einer alten Spardose gefunden haben, oder Scheine aus dem Sparstrumpf der verstorbenen Oma.
Fast drei Jahre nach der Euro-Einführung kommen jeden Tag noch immer durchschnittlich 65 Menschen in die bundesweit 66 Bundesbankfilialen. Pro Monat heißt das für alle Filialen zusammen knapp 86 000 mal umtauschen. In den meisten Fällen liegen die ausgezahlten Beträge bei 50 bis 150 Euro, immer wieder werden aber auch deutlich größere D-Mark-Mengen in eine Bundesbank-Filiale getragen. In der Hamburger Bundesbank-Hauptverwaltung bekamen allein in der Zeit vom 2. bis 31. August 3257 Umtauschwillige Euro im Tausch gegen insgesamt 1,5 Mio. D-Mark.
Die Düsseldorfer Filiale, ein großer dunkler Kasten mit viel Glas am Rand der Innenstadt, war früher die Landeszentralbank. Weit oben über dem Schalterraum, im siebten Stock, sitzt Friedel Fleck, Direktor der Bundesbank-Hauptverwaltung Düsseldorf. Er findet es ganz selbstverständlich, daß heute wie an anderen Tagen so viele Menschen anstehen, um ihre alten Scheine und Münzen loszuwerden: "Schließlich sind noch 16 Milliarden D-Mark im Umlauf."
Allerdings nur rein statistisch gesehen. Denn drei Viertel der D-Mark-Milliarden hat die Bundesbank praktisch abgeschrieben. Es ist nicht damit zu rechen, daß dieses Geld noch auftaucht, sagt Fleck. "Wir schätzen, daß 12 Milliarden der verschwundenen D-Mark heute gar nicht mehr existieren. Dazu gehören Geldscheine, die verbrannt worden sind, oder Münzen, die Touristen in italienische Brunnen geworfen haben und die sich dort langsam zersetzen."
Doch was da an Scheinen und Münzen alter Währung noch in Schubladen oder Sofaritzen schlummert, ist eine Menge. Vier Milliarden Mark sollten doch noch retour kommen, erwartet man bei der Bundesbank. Irgendwann. "Die Münzen, die wir noch vermissen, wiegen zusammen so viel wie 2500 ausgewachsene afrikanische Elefanten", hat Fleck ausgerechnet.
Wo sich das Klimpergeld versteckt, erstaunt auch den Banker mitunter. "Neulich stand ein Mann aus Indien mit zwei Eimern voller deformierter Pfennigstücke in der Umtausch-Schlange", sagt Fleck, "der hatte die Münzen aus alten deutschen Schrottautos, die nach Indien verkauft worden waren." Es gibt auch wunderliche D-Mark-Fundorte in Deutschland. Ein Bekannter drückte Fleck kürzlich einen Zehn-Mark-Schein in die Hand. Den hatte der Mann in der Satteltasche seines Fahrrads gefunden. "Vor Jahren hatte er den Schein dort rein gesteckt. Für Notfälle, falls er mal mit dem Fahrrad unterwegs wäre und an der Kneipe Halt machen wollte."
Die Deutschen, so scheint es, mögen sich einfach nicht trennen von der Mark. Der Umtausch läuft überaus schleppend. Ende August 2004 waren noch 8,1 Mrd. Mark (rund 4,1 Mrd. Euro) in Scheinen im Umlauf, dazu Münzen im Wert von 7,3 Mrd. Mark. Ende Juni 2003 waren es nach Angaben der Bundesbank noch 8,7 Mrd. in Scheinen und 7,4 Mrd. in Münzgeld alter Währung.
Fast jede Woche muß der Chef der Düsseldorfer Bundesbank-Hauptverwaltung altes deutsches Geld mit ins Büro nehmen, D-Mark von Freunden und Bekannten. Dann stellt sich Bankdirektor Fleck, wie alle anderen Kunden auch, in der Schlange im Erdgeschoß an. Die läuft auf den Schalter mit dem Schild "Umtausch DM - Euro" zu. Jetzt ist Elena Katsenou dran. Sie schiebt dem Kassierer ihre drei Geldscheine über den Tresen, bekommt eine Quittung, die steckt sie in einen Automaten in der Vorhalle, der aussieht wie ein normaler Geldautomat, und der spuckt dann Euros aus. Der Umtausch ist kostenlos.
Weiter hinten in der Schlange steht Antonio Amaral. Der weißhaarige Mann in heller Freizeithose und Turnschuhen ist mit dem Fahrrad aus dem Düsseldorfer Vorort Ratingen gekommen. Aus seiner Hosentasche kramt er zwei Fünf-Mark-Stücke, zwei Groschen und ein Fünf-Pfennig-Stück hervor. "Das Geld hat mein Sohn beim Aufräumen in seiner Wohnung gefunden, in einer Blechkiste."
Hinter Herrn Amaral steht ein älterer Mann mit grüner Schirmmütze. Michael Bochner kommt aus Israel. Für zwei Wochen ist er zu Besuch in Deutschland, und muß in dieser Zeit viele Programmpunkte abarbeiten: Besuche bei Bekannten, Sightseeing, Schlangestehen bei der Bundesbank. Einen Hundertmarkschein hat er zusammengefaltet in der Hosentasche. "Gute, alte D-Mark", sagt er. Eine Bekannte aus Israel hatte den Schein noch in ihrem Reiseportemonnaie.
Große Scheine kommen aber nur noch selten in den Bundesbankfilialen an, sagt Asmus Schütt, Pressesprecher der Bundesbank. "Normalerweise tauschen die Kunden nur noch Kleckerbeträge." Theoretisch, sagt Schütt, dürfe man sogar einen einzelnen Pfennig umtauschen. Das bringt Gewinn, denn die Bundesbank muß dafür einen Cent auszahlen.
Auf einer Besucherbank im Düsseldorfer Bundesbank-Schalterraum sitzt Irene Meissner. Die ältere Dame mit den dicken Brillengläsern und dem grauen Haardutt wartet geduldig, bis sie vom Herrn hinter dem Schalter aufgerufen wird. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kunden, die nur Geldscheine dabei haben, hat Frau Meissner einen ganzen Sack voller Kleingeld mitgebracht. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Kirchengemeinde, hat heute den Klingelbeutel in die Bank gebracht: "Viele Leute werfen uns die alten Münzen, die sie noch zuhause finden, bei der Kollekte in den Klingelbeutel", erzählt sie. "Die denken: Sollen die von der Kirche das Geld doch umtauschen gehen." Das tut Frau Meisner alle drei Monate. Dann ist meist so viel Geld zusammen, daß sich ein Gang zur Bundesbank lohnt. Dann gibt sie den Beutel mit dem Klimpergeld an einem speziellen Münzgeld-Schalter ab. Der Mann hinter dem Tresen schüttet den Beutelinhalt in eine Geldzählmaschine. Es rattert, die Maschine spuckt einen Bon mit der gezählten Summe aus. Die bekommt Frau Meisner in Euro ausgezahlt. "Diese Einnahmen nehmen wir für die Weihnachtsfeier der alleinstehenden Frauen."
Artikel erschienen am Sa, 16. Oktober 2004